Mittwoch, 30. Dezember 2009

Bisphenol A - BPA - Was die einen sagen und die anderen messen

Die einen, wie zum Beispiel das Bundesamt für Gesundheit BAG, sagen:
Das BAG hat die wissenschaftlichen Berichte verschiedener Lebensmittelsicherheitsbehörden ausgewertet und ist der Meinung, dass die Einnahme von Bisphenol A durch Lebensmittel kein Risiko für den Konsumenten darstellt. Dies gilt auch für Neugeborene und Säuglinge. (...) Betreffend der Toxizität von BPA teilt das BAG die Meinung der Experten der EFSA [europ. Lebensmittelsicherheitsbehörde], dass die abgeleitete tolerierbare tägliche Aufnahmemenge für die Konsumenten ein ausreichendes Schutzniveau gewährleistet. Das BAG berücksichtigt in seiner Einschätzung, dass die Befunde bei "tiefen Dosen" bisher unter normierten Versuchsbedingungen nicht reproduziert werden konnten. Es kommt auch zum Schluss, dass ein Verbot von Schoppenflaschen aus Polycarbonat die Aufnahme von BPA bei Säuglingen nur minim verringern würde und daher auch keine Verbesserung des Gesundheitsschutzes erreicht würde. Konsumenten, welche trotzdem die mögliche Aufnahme von BPA weiter vermindern möchten, empfiehlt das BAG die Verwendung von Schoppenflaschen aus Glas.

Und die anderen (eine unrepräsentative Auswahl von Fachartikeln aus den letzten paar Jahren) messen:

Bisphenol A BPA dämpft die Wirksamkeit von Chemotherapien bei Brustkrebs.
BPA at environmentally relevant doses reduces the efficacy of chemotherapeutic agents. These data provide considerable support to the accumulating evidence that BPA is hazardous to human health.

BPA schädigt Plazentazellen.
Our findings suggest that exposure of placental cells to low doses of BPA may cause detrimental effects, leading in vivo to adverse pregnancy outcomes such as preeclampsia, intrauterine growth restriction, prematurity and pregnancy loss.

BPA schädigt die Entwicklung der Oozyten von Mäuseembryos.
Pregnant mice were treated with low, environmentally relevant doses of BPA during mid-gestation to assess the effect of BPA on the developing ovary. Oocytes from exposed female fetuses displayed gross aberrations in meiotic prophase, including synaptic defects and increased levels of recombination. In the mature female, these aberrations were translated into an increase in aneuploid eggs and embryos.

BPA beeinflusst Neurotransmitter im Gehirn.
The present results suggest that BPA exposure at lower doses than environmentally relevant levels may have a great impact on monoamine levels in neonatal brain.

BPA macht den dritthäufigsten Krebs bei Kindern aggressiver.
In conclusion, DEHP, BPA, and E2 potently promote invasion and metastasis of neuroblastoma cells through overexpression of MMP-2 and MMP-9 as well as downregulation of TIMP-2.

BPA verändert bei trächtigen Ratten die Durchlässigkeit des Darmepithels, die Reaktion auf eine Darmentzündung und erhöht die Schmerzempfindlichkeit des Darmausgangs. Ihr weiblicher Nachwuchs zeigt dieselben Symptome und ist zudem anfälliger auf schwere Darminfektionen.
This study first demonstrates that the xenoestrogen BPA at reference doses influences intestinal barrier function and gut nociception. Moreover, perinatal exposure promotes the development of severe inflammation in adult female offspring only.

BPA verändert das Sexualverhalten bei weiblichen Ratten.
BPA-exposed females displayed significantly lower levels of proceptive behavior. Our results show that BPA permanently alters the hypothalamic estrogen-dependent mechanisms that govern sexual behavior in the adult female rat.

BPA im Trinkwasser von schwangeren Ratten lässt deren Töchter zu Uebergewicht neigen.
After weaning, perinatal BPA exposure predisposed to overweight in a sex- and diet-dependent manner. We observed no change in food intake due to perinatal BPA exposure in rats on either standard chow or a high-fat diet. CONCLUSIONS: Perinatal exposure to a low dose of BPA increased adipogenesis in females at weaning. Adult body weight may be programmed during early life, leading to changes dependent on the sex and the nutritional status. Although further studies are required to understand the mechanisms of BPA action in early life, these results are particularly important with regard to the increasing prevalence of childhood obesity and the context-dependent action of endocrine disruptors.

BPA beeinflusst die Uterusentwicklung bei Ratten.
BPA affects HOXA10 expression through the HOXA10 ERE and indirectly through the ARE. BPA initially alters HOXA10 expression through the ERE, however, the response is imprinted and uncoupled from estrogen stimulation in the adult. Several xenoestrogens alter HOX gene expression, indicating that HOX genes are a common target of endocrine disruption. In utero exposure to a xenoestrogen produces reproductive tract alterations by imprinting essential developmental regulatory genes.

BPA führt bei gewissen Wasserschnecken zu krankhaften Veränderungen.
Superfemales are characterized by the formation of additional female organs, enlarged accessory sex glands, gross malformations of the pallial oviduct, and a stimulation of egg and clutch production, resulting in increased female mortality. (...) Before and after the spawning season, superfemale responses were observed [NOEC (no observed effect concentration) 7.9 ng/L, EC10 (effective concentration at 10%) 13.9 ng/L], which were absent during the spawning season. In M. cornuarietis, BPA acts as an estrogen receptor (ER) agonist, because effects were completely antagonized by a co-exposure to tamoxifen and Faslodex. Antiandrogenic effects of BPA, such as a significant decrease in penis length at 20°C, were also observed. Competitive receptor displacement experiments indicate the presence of androgen- and estrogen-specific binding sites. The affinity for BPA of the estrogen binding sites in M. cornuarietis is higher than that of the ER in aquatic vertebrates. The results emphasize that prosobranchs are affected by BPA at lower concentrations than are other wildlife groups, and the findings also highlight the importance of exposure conditions.

Je mehr BPA eine Frau in IVF-Behandlung im Urin hat, desto weniger "erntereife" Eier entwickelt sie während eines Behandlungszyklus.
For each log unit increase in SG-BPA, there was an average decrease of 12% (95% CI: 4, 23%; p = 0.007) in the number of oocytes retrieved and an average decrease of 213 pg/ml (95% CI: -407, -20; p = 0.03) in peak oestradiol. BPA was detected in the urine of the majority of women undergoing IVF, and was inversely associated with number of oocytes retrieved and peak oestradiol levels.

BPA beeinflusst den Hormonhaushalt bei Männern.
we observed inverse relationships between urinary BPA concentrations and free androgen index (ratio of testosterone to sex hormone binding globulin), estradiol, and thyroid stimulating hormone. Our results suggest that urinary BPA concentrations may be associated with altered hormone levels in men, but these findings need to be substantiated through further research.

Es lässt sich ein Zusammenhang postulieren zwischen dem BPA-Gehalt im Urin einer Schwangeren und dem Verhalten ihrer Töchter im Alter von 2 Jahren:
These results suggest that prenatal BPA exposure may be associated with externalizing behaviors in 2-year-old children, especially among female children.

Ein höherer BPA-Gehalt im Urin korrespondiert mit einem höheren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bericht in Nature dazu):
Higher BPA exposure, reflected in higher urinary concentrations of BPA, is consistently associated with reported heart disease in the general adult population of the USA. Studies to clarify the mechanisms of these associations are urgently needed.

Die Diskussion um die Chemikalie dürfte in den kommenden Wochen und Monaten an Intensität eher noch zunehmen. Von allen Seiten (auch von der Industrie und ihren verschiedenen Spindoctors) demnächst erwartet wird eine neue Enschätzung der FDA dazu, nachdem sie die Publikation ihres Verdiktes drei Mal verschoben hat. Ob die Verzögerung entfernt mit der Wahl Anfang Dezember von David Michaels, Autor des industriekritischen "Doubt is their product", zum Direktor der Occupational Safety and Health Administration (OSHA) zu tun hat? Auf WHO- und FAO-Ebene wird BPA im Oktober 2010 in Kanada verhandelt werden.

Samstag, 26. Dezember 2009

"Konsensplattform" zu wissenschaftlichen Forschungsprogrammen - Was ist davon zu halten?

Wie kommen wissenschaftliche Forschungsprogramme hierzulande zu ihren Schlussaussagen? Nehmen wir als Beispiel das NFP 50 über hormonaktive Substanzen. Davon erfahren wir auf der Website, dass dazu u.a. eine so genannte Konsensplattform tagte (ihr Schlussdokument) zum Thema "UV-Filter in Sonnenschutzmitteln". Ueber ihren Ansatz lesen wir bei der EAWAG:
Als Neuerung in einem Nationalen Forschungsprogramm wurde das NFP50 mit einer Konsensplattform abgeschlossen. Auf der Basis des neuen Wissens erarbeiteten Forscherinnen und Forscher dabei gemeinsam mit Vertretern von Behörden und Industrie praxis­bezogene Empfehlungen zu den hormonaktiven Stoffen. Alle Beteiligten sollten zu den Resultaten stehen können, das übliche «Ja, aber» möglichst vermieden werden.
Ueber das Vorgehen steht im Schlussdokument zu den UV-Filtern:
Die Methodik der Konsensplattformen wurde durch den Umsetzungsbeauftragten des Nationalen Forschungsprogramms ‚Hormonaktive Stoffe’, Dr. Marcel Trachsel, in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen int/ext Communications AG, Basel, entwickelt. Als Basis dienten die Vorgaben der Leitungsgruppe.
Bei der Konsensplattform handelt es sich um einen strukturierten, konstruktiven Dialog von Industrie, Behörden und Wissenschaft mit dem Ziel, ein allgemein akzeptiertes Übereinkommen zu finden über die Wirkung hormonaktiver Stoffe auf Mensch, Tier und Umwelt sowie über Massnahmen, die zur Minimierung der negativen Wirkung beitragen. Die Methodik beruht auf einer Abfolge von Sitzungen und individueller Reflektion zu deren Vorbereitung.

Gewisse Voraussetzungen sind notwendig, um eine Konsensplattform erfolgreich abzuschliessen:
⋅ Das zu behandelnde Thema (Issue) ist möglichst einzugrenzen.
⋅ Die Mitglieder sind bereit, im Rahmen des Prozesses zu kooperieren, abweichende Interessen und Positionen zu akzeptieren und gemeinsam an einem Übereinkommen zu arbeiten.
⋅ Die Sitzungen werden professionell moderiert.
⋅ Alle Vorgänge und Zwischenergebnisse bleiben bis zum Abschluss der Konsensplattform vertraulich. Nach Abschluss der Arbeiten werden nur die verabschiedeten Resultate kommuniziert.

Schritt 1: Auf Grund ihrer Kenntnislage definieren die Mitglieder der Konsensplattform individuell ihren Standpunkt zu Wirkung und Massnahmen, resp. den Standpunkt der Organisation, die sie vertreten.
Schritt 2: An einer ersten gemeinsamen Sitzung vertreten die Mitglieder der Konsensplattform ihren Standpunkt zu Wirkung und Massnahmen und gestatten ein Hinterfragen dieses Standpunktes durch die anderen Mitglieder der Konsensplattform (Hearing). Aus dieser Sitzung resultiert je eine Sammlung an wirkungs- und massnahmenbezogenen Aussagen/Empfehlungen. Diese werden den Mitgliedern der Konsensplattform zur Verfügung gestellt.
Schritt 3: Individuell entscheiden die Mitglieder der Konsensplattform in diesem Schritt über die Akzeptanz, bedingte Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz jeder wirkungsbezogenen Aussage. Die bedingte Akzeptanz ist zwingend zu begründen.
Die Ergebnisse werden zentral gesammelt und eingeteilt in folgende Kategorien:
Kategorie w1: allgemein akzeptiert >>> direkte Aufnahme in die finale Sammlung akzeptierter Aussagen
Kategorie w2: akzeptiert und bedingt akzeptiert, nicht mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> Besprechung an der gemeinsamen Sitzung
Kategorie w3: mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> wird nicht weiter verfolgt
Schritt 4: An der gemeinsamen Sitzung werden die wirkungsbezogenen Aussagen der Kategorie w2 mit dem Ziel weiter besprochen, eine Formulierung zu finden, die für alle Mitglieder der Konsensplattform akzeptabel ist. Das Resultat dieser Sitzung ergibt zusammen mit den Aussagen der Kategorie w1 die finale Sammlung akzeptierter wirkungsbezogener Aussagen. Diese werden in eine logische Reihenfolge gebracht und von der Konsensplattform verabschiedet.
Schritt 5: Individuell entscheiden die Mitglieder der Konsensplattform in diesem Schritt über die Akzeptanz, bedingte Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz jeder massnahmenbezogenen Aussage/Empfehlung. Die bedingte Akzeptanz ist zwingend zu begründen. Die Ergebnisse werden zentral gesammelt und eingeteilt in folgende Kategorien:
Kategorie m1: allgemein akzeptiert >>> direkte Aufnahme in die finale Sammlung akzeptierter Aussagen/Empfehlungen
Kategorie m2: akzeptiert und bedingt akzeptiert, nicht mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> Besprechung an der gemeinsamen Sitzung
Kategorie m3: mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> wird nicht weiter verfolgt
Schritt 6: An der gemeinsamen Sitzung werden die massnahmenbezogenen Aussagen/Emfpehlungen der Kategorie m2 weiter besprochen mit dem Ziel, eine Formulierung zu finden, die von allen Mitgliedern der Konsensplattform akzeptiert werden kann. Das Resultat dieser Sitzung ergibt zusammen mit den Aussagen der Kategorie m1 die finale Sammlung akzeptierter massnahmenbezogener Aussagen/Empfehlungen. Diese werden in eine logische Reihenfolge gebracht und von der Konsensplattform verabschiedet.
Schritt 7: Die verabschiedeten Sammlungen wirkungs- und massnahmenbezogener Aussagen werden in einem Schlussdokument zusammengefasst und stehen zur Kommunikation mit weiteren Anspruchgruppen zur Verfügung.

Halten wir kurz fest: Ein Gremium hat in einer Art demokratischem Prozess den Minimalkonsens eruiert bezüglich Wirkung und notwendiger Massnahmen betreffend hormonaktiver UV-Filter in Sonnenschutzmitteln! Damit wird die Zusammensetzung dieses Gremiums zum wichtigen Faktor, der das Endergebnis bestimmt. Darüber erfahren wir:
Herstellende Industrie
Uli Osterwalder, Dr. Helmut Elbert, Ciba Spezialitätenchemie, Basel
Dr. Gabriele Allard, Dr. Jochen Bausch, Michael Weller, DSM Nutritional Products, Basel

Verarbeitende Industrie
Dr. Bernhard Irrgang, Mibelle, Buchs (AG)
Dr. Hans-Jürg Furrer, Louis Widmer, Schlieren
Dr. Marcel Langenauer, Spirig, Egerkingen

Behörden
Prof. Dr. Georg Karlaganis, Dr. Christoph Studer, Bundesamt für Umwelt, Bern
Dr. Michel Donat, Dr. Judith Amberg-Müller, Bundesamt für Gesundheit, Bern

Dermatologie
Prof. Dr. Lasse Braathen, Universität Bern

Nationales Forschungsprogramm ‚Hormonaktive Stoffe’
PD Dr. Margret Schlumpf, Prof. Dr. Walter Lichtensteiger, GreenTox, Universität Zürich
PD Dr. Karl Fent, Fachhochschule Nordwestschweiz

Moderation und Aufbereitung
Prof. Dr. Felix R. Althaus, Präsident Leitungsgruppe NFP ‚Hormonaktive Stoffe’, Universität Zürich
Dr. Marcel Trachsel, Umsetzungsbeauftragter NFP ‚Hormonaktive Stoffe, int/ext Communications AG, Basel

Das heisst: In dem 16 köpfigen Gremium ("Moderation und Aufbereitung" nicht eingerechnet), das über das publizierte Schlussdokument des Teilprojektes zu UV-Filtern in Sonnenschutzmitteln innerhalb des Forschungsprogramms NFP50 befand, sassen 8 IndustrievertreterInnen, 4 Behördenmitglieder, 1 Dermatologe und genau 3 Forschende des eigentlichen Forschungsprogramms, um dessen Schluss-Statement es geht. Der Umsetzungsbeauftragte Marcel Trachsel arbeitete übrigens jahrelang bei und für Sandoz als Mediensprecher.
Erinnern wir uns zudem an das Verfahren, wie die Aussagen gefiltert werden: Wenn mehr als 1 Vertreter eine Aussage nicht akzeptiert, wird sie nicht weiter verfolgt (siehe weiter oben: "Kategorie m3" und "Kategorie w3"). Also: Wenn zwei Nein! sagen, und 14 Ja!, gewinnt das Nein! Was kam bei diesem Vorgehen bei dieser Zusammensetzung heraus?
Wirkungsbezogene Aussagen
Aus einer Gesamtheit von 51 wirkungsbezogenen Aussagen wurden folgende 19 Aussagen von der Konsensplattform in der vorliegenden Form akzeptiert und verabschiedet (...)

Also zwei Drittel der wirkungsbezogenen Aussagen (32 von 51), die wohl vor allem von den Forschenden formuliert wurden, fielen vom Tisch, weil sie mindestens 2 Industrie- oder Behördenvertretern nicht passten.
Massnahmenbezogene Aussagen/Empfehlungen
Aus der Gesamtheit von 18 massnahmenbezogenen Aussagen/Empfehlungen wurden alle 18 Aussagen/Empfehlungen von der Konsensplattform in der vorliegenden Form akzeptiert und verabschiedet (...)

100% der massnahmenbezogenen Aussagen kamen durch. Weil sie von Beginn weg so allgemein gehalten sind, dass niemand dagegen sein konnte? Vielleicht. Sie lassen sich zusammenfassen als: mehr Forschung, mehr Prüfung und Appelle an die Selbstverantwortung der Industrie!

Es bleibt ein schales Gefühl zurück bei der ganzen Sache. Vor allem: Wie lauteten die 32 wirkungsbezogenen Aussagen, die es nicht ins Schlussdokument schafften auf diesem Weg? Diese basierten wohl jede einzelne auf konkreten Forschungsergebnissen des NFP50, waren also nicht irgendwelche Phantasiegebilde. Solide wissenschaftliche Ergebnisse, die unterm Tisch landeten, weil sie den Industrie- oder Behördenvertretern nicht passten und sie ihr Veto einlegten gegen deren Publikation im Schlussdokument. Und über diese 32 "Verschwundenen" breitet sich bis in alle Ewigkeit der Mantel der Omertà (siehe oben, bei "Voraussetzungen")! "Konsensplattform" klingt so gesehen sehr euphemistisch!

P.S. Den Schlussberichten der anderen beiden Konsensplattformen, jenen zu bromierten Flammschutzmitteln und zu hormonaktiven Stoffen im Wasser, ist zu entnehmen, das dort gleich vorgegangen wurde und die personelle Zusammensetzung ähnlich "ausgewogen" war. Die Forschenden waren immer in der Minderheit. Leider verraten jene zwei Berichte allerdings nicht, wieviele Aussagen per Veto abgeschossen wurden.

P.P.S. Natürlich steht auf den mageren 9 (!) Seiten des "öffentlichen Schlussberichts" des CHF 15'000'000.- teuren NFP50 noch mehr zu den Wirkungen von hormonaktiven Substanzen, als in den Papieren der Konsensplattformen. Aber von den 9 Seiten Schlussbericht füllt immerhin auch wieder die 4 letzten Seiten das wie oben beschrieben zustande gekommene Material der Konsensplattformen. Wer aus den Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur WBK oder den Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit SGK schaut sich, nach dem Durchblättern dieses Schlussberichtes (mit soviel "Konsens" drin auf den letzten Seiten), die NFP50-Sondernummer von Chimia noch an mit den Fach-Artikeln über mögliche Zusammenhänge von hormonaktiven Substanzen und Brustkrebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Embryonalentwicklung, Hodenhochstand etc. (oder gar andere Fachliteratur)?

P.P.P.S. Warum sassen in den Gremien, die die "Konsensplattformen" erarbeiteten, keine Vertreter der Oeffentlichkeit (Typus Konsumentenschutz, Umweltschutz, Gewerkschaften etc.)? Warum 8 Industrievertreter, aber 0 Anwälte von Ihnen und mir? BAFU und BAG füllen diese Lücke nicht.

Mittwoch, 23. Dezember 2009

Ein UUID für Forschende

"Nature" stellt in der Ausgabe vom 17. Dezember ORCID vor, die Open Researcher Contributor Identification Initiative. Kurz gesagt: Jede Forscherin, jeder Forscher soll eine Art UUID erhalten. Deren Funktion wird umschrieben mit:
Our mission is to resolve the systemic name ambiguity, by means of assigning unique identifiers linkable to an individual's research output, to enhance the scientific discovery process and improve the efficiency of funding and collaboration.
Die Formulierung erinnert an jene des Vizerektors der Uni Basel, angesprochen auf seine neue Forschungsdatenbank:
Die Datenbank kann als zusätzliches Instrument dienen, um Forschungsleistungen zu messen. Im Hinblick auf eine leistungsorientierte Mittelallokation kann es für die Forschenden von Vorteil sein, ihre Leistungen in der Datenbank sichtbar zu machen.
Das ORCID-System soll die Funktionsweise von ReseacherID von Thomson Reuters übernehmen. Kommt auf die Liste: "mal näher ansehen".
P.S. Kendall Clarke von Clark & Parsia hat mir übrigens verraten, dass die NASA bereits so ein System intern verwendet.

Autoreifen als Wasservergifter

Autos sind nicht nur praktisch, bequem und schaffen viele Arbeitsplätze, sie verpesten auch die Luft, sind laut, versperren den öffentlichen Raum und verschandeln per Strassenbau Stadt und Land. Und sie vergiften die Gewässer. Anno 2007 schrieb am 28. Juli unter dem Titel "Kiloweise Gift auf dem Asphalt" die Berner Zeitung in einem Kästchen zum Artikel:
13 Autoreifen sind eine ganze Menge. Kaum vorstellbar: Auf einem Kilometer der Autobahn A1 wird jeden Tag eben diese Menge abgefahren. Dieser Abrieb enthält zum einen ungelöste Stoffe, also feste Partikel wie Gummi, aber auch Zink, Cadmium und weitere Schwermetalle. Nach Regen sammeln sich diese Stoffe im Autobahnabwasser, das praktisch überall im Kanton Bern direkt in Gewässer fliesst. Elmar Scheiwiller vom kantonalen Gewässer- und Bodenschutzlabor hat berechnet, welche Schadstoffe pro Jahr auf 10 Kilometern Autobahn mit 74000 Fahrzeugen pro Tag – wie etwa bei Mattstetten – anfallen und in Gewässer fliessen: 6,6 Tonnen ungelöster Stoffe sowie 6,9 Kilo Kupfer, 23 Kilo Zink, 800 Gramm des giftigen Schwermetalls Antimon und 1,4 Kilo Blei.
13 Autoreifen pro Tag abgefahren? Die Formulierung ist zweideutig. Ist damit die integrale Gummimasse von 13 Reifen gemeint? Kaum. Eher wohl die Gummimenge, die an einem Tag 13 Reifen liegenlassen, wenn sie vom Neuzustand auf "zu entsorgen" herunterfahren. Die A1 ist insgesamt 328 Kilometer lang. 13 Reifen pro Tag pro Kilometer macht (13*365*328) 1'556'360 Reifen. So viele Reifen hinterlassen offenbar ihren gesamten Belag (die gut 1 cm Gummi, die "neuwertig" von "entsorgen!" trennen) jährlich alleine auf der Ost-West-Achse auf der Strecke als Abrieb. Abrieb, der dann eben mit dem Regenwasser abgeht. Rechnen wir nochmals nach! Deutsche Zahlen für den Abrieb: Pkw: 53 bis 200 Milligramm pro Kilometer, Lkw: 105 (?) bis 1'700 Milligramm pro Kilometer, Sattelzug: 1'000 bis 1'500 Milligramm pro Kilometer. Nehmen wir einen - wahrscheinlich eher zu hohen - Mittelwert von 500 Milligramm pro Fahrzeug, egal welcher Art. Durch die Hard bei Basel rasten im Oktober dieses Jahres täglich im Schnitt 128'000 Autos in beide Richtungen (1,5 pro Sekunde). Rechne: Die Strecke ist 2 Kilometer lang. 128'000 Autos x 500 Milligramm Abrieb x 2 Kilometer = 128 Kilogramm Abrieb. Täglich! Pro Jahr 46'720 kg Reifenabrieb, konservativ abgerundet auf 20 Tonnen, schon nur auf der Betonpiste durch den Hardwald. Im Lauftext in der Berner Zeitung erfuhr das Publikum zudem:
(...) seit 2002 ist eine Wegleitung des Bundesamtes für Strassen in Kraft, die vorschreibt, Autobahnabwasser künftig zu reinigen, bevor es in ein Gewässer geleitet wird. Das hat seinen Preis: Allein für den Kanton Bern werden die Kosten für die Abwasserbehandlung der Autobahnen auf gegen 66 Millionen geschätzt. Gesamtschweizerisch ist mit einer halben bis einer Milliarde Franken zu rechnen. Verbindlich sind die Vorschriften für neue Autobahnstrecken oder bei einem Ausbau. Der Kanton Bern baut derzeit an mehreren Autobahnstrecken, etwa an der Stadttangente Bern.
Wohin fliesst das Abwasser der Hardstrecke? Im grossen Wald, gleich nördlich davon, liegen übrigens wichtige Trinkwasserquellen von Basel:

Was mit dem Abwasser zu geschehen hat, steht in der Wegleitung "Gewässerschutz bei der Entwässerung von Verkehrswegen". Ob die basellandschaftlichen Stellen sich daran halten? Bei Gelegenheit mal nachfragen.

Dienstag, 22. Dezember 2009

Nicolas Mayencourt von dreamlab technologies über "Reflections on Cybersecurity"

Unlängst veröffentlichten William A. Wulf and Anita K. Jones in Science einen kurzen Aufsatz mit dem Titel "Reflections on Cybersecurity". Ihre Kernfrage:
The current model for most cybersecurity is “perimeter defense”: The “good stuff” is on the “inside,” the attacker is on the “outside,” and the job of the security system is to keep the attacker out. The perimeter defense model is built deeply into the very language used to discuss security: Hackers try to “break in,” “firewalls” protect the system, “intrusion” must be detected, etc. But is perimeter defense the right underlying model?
Natürlich haben sie darauf ihre Antworten:
We do not think so, for several reasons. First, perimeter defense does not protect against the compromised insider. The Federal Bureau of Investigation (FBI) has reported that in one sample of financial systems intrusions, attacks by insiders were twice as likely as ones from outsiders—and the cost of an intrusion by an insider was 30 times as great.
Second, it is fragile; once the perimeter has been breached, the attacker has free access. Some will say that this is why “defense in depth” is needed—but if each layer is just another perimeter defense, all layers will have the same problems.
Third, and most important, it has never worked. It did not work for ancient walled cities or for the French in World War II (at 20 to 25 km deep, the Maginot Line was the most formidable military defense ever built, yet France was overrun in 35 days). And it has not worked for cybersecurity. To our knowledge no one has ever built a secure, nontrivial computer system based on this model.
Also was tun?
We think we should take our cue from the Internet. That is, there should not be just one model. Rather, there should be a minimal central mechanism that enables implementation of many security policies in application code—systems attuned to the needs of differing applications and organizations. (...) Is such a minimal mechanism feasible? We think so. In particular, at the network level, an application can use any computable function to decide whether or not to provide its service to a client if it can be absolutely certain who is requesting it. There is a class of algorithms known as “cryptographic protocols” for doing this that require knowing the public key of an object — so we conjecture that by providing just a way of accessing the public key of an object, one could build an arbitrary end-to-end security policy.
Das Gespräch mit Nicolas Mayencourt von dreamlab technologies in Bern, angeregt durch den Artikel von Wulf & Jones, macht etwas klarer, was damit gemeint sein könnte:

Gesendet in gekürzter Fassung im "Netzgespräch" auf DRS2 heute.

Samstag, 12. Dezember 2009

Schweizer Photovoltaikindustrie in Bewegung: Flisom ein kommender Player

Schritt für Schritt wächst in der Schweiz ein neuer Industriezweig heran im Bereich der Entwicklung und Herstellung von photovoltaischen Solarzellen. Noch lassen sich zwar die Produktionsstätten an einer Hand abzählen. Aber es tut sich was. Die Produkte, die in den hiesigen Labors und Werkstätten entstehen, gehören in Sachen Effizienz und Langlebigkeit zur Weltspitze und sind international sehr gefragt: Von ihren rund 1,6 Milliarden Franken Umsatz 2008 erwirtschaftete die rasant wachsende Schweizer Solarzellenbranche 1,5 Milliarden im Ausland, wie der jährliche Statusbericht des "Programm Photovoltaik" 2009 festhielt. Ein Überblick über eine Schweizer Zukunftsbranche.

Im Beitrag, gesendet heute in Wissenschaft DRS2, kommen zu Wort / werden erwähnt: Christophe Ballif (Uni NE / EPFL), Michael Grätzel (EPFL), Ayodhya Tiwari (EMPA), Stefan Nowak (BfE), Anil Sethi (FLISOM), Flexcell, OC Oerlikon Solar, Bundesamt für Energie; Forschungsprogramm Photovoltaik.

for the record: iDisk unter Ubuntu einhängen

Hier ist nachzulesen, wie einfach eine iDisk von .mac einzubinden ist unter Ubuntu. Einfach via "Orte" -> "Verbindung zu Server..." dieses Fenster vorholen und wie links ausfüllen. Bei der Eingabeauforderung den Usernamen wieder ohne @mac.com (oder @me.com) eintragen und das Passwort eingeben, "return" und das war's:

Kurze Kontrollfrage: Wie nützlich ist Blockbuster Medikament Tamiflu von Roche wirklich?

NZZ: "Die Firma Roche steht unter Beschuss. Sie halte wichtige Daten aus Studien zurück, welche die Wirksamkeit von Tamiflu belegen sollen, schreiben Forscher der Cochrane-Vereinigung im «British Medical Journal» («BMJ»). (...) Als der britische Privatsender Channel 4 [siehe Video weiter unten] in Zusammenarbeit mit den Cochrane-Forschern bei Roche Einblick in die Daten verlangte, wurde ihnen mitgeteilt, dass dies nur gehe, wenn sie eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben würden. Für die Forscher waren die gestellten Konditionen aber inakzeptabel, wie sie schreiben. Deshalb schlossen sie die fraglichen Datensätze in der neuen Analyse aus. Anhand der restlichen Daten konnten sie eine Reduktion der grippebedingten Komplikationen wie etwa Lungenentzündungen bei gesunden Menschen nicht mehr feststellen. Dies führten sie auf einen Mangel an verlässlichen Daten zurück. (...) Die Regierungen hätten sich bei der Anschaffung der Medikamente auf falsche Annahmen verlassen, schreiben Godlee und Clarke. Roche widerspricht dem. Die Firma sei von der Qualität ihrer Daten überzeugt, sagt die Mediensprecherin Martina Rupp. (...) In Reaktion auf die Untersuchungen hat Roche aber angekündigt, einen Passwort-geschützten Zugang zu den fraglichen Daten einzurichten. Es wird sich zeigen, ob dies ihre Rehabilitierung erlaubt."

Die Woche zuvor debattierten im BMJ bereits zwei Fachleute über den Umgang mit firmengesponserten klinischen Studien und ihren Daten.

Mittwoch, 9. Dezember 2009

Schwarze Schokolade baut Stresshormone ab

Der Schokolade, insbesondere dunkler Schokolade, werden allerlei wohltuende Eigenschaften nachgesagt. Stimmungsaufhellend und antidepressiv wirke sie, wundheilend und blutdrucksenkend und so weiter. Eine kürzlich erschienene Studie, aus der Schweiz finanziert, stellt nun fest, dass regelmässiger Konsum von dunkler Schokolade sogar Stresshormone abbauen kann.

Auskunft gab Sunil Kochhar, Schokoladeforscher bei Nestlé, über seine Arbeit "Metabolic Effects of Dark Chocolate Consumption on Energy, Gut Microbiota, and Stress-Related Metabolism in Free-Living Subjects"

Nanopartikel aus Silber in der Kleidung und im Abwasser

Nanopartikel, diese winzig kleinen Teilchen, tausend Mal kleiner als Staubkörner, finden sich inzwischen in Putzmitteln, Hörgeräten, Computeranzeigen, Teekrügen, in Plüschtieren, Sonnencremes und Insektenvertilgungsmitteln. Die Liste ist lang und wird immer länger. Die Hersteller versprechen, mit Nanomaterialien liessen sich wichtige Produkteeigenschaften verbessern. Zum Beispiel bei Sport- und Freizeitbekleidung. Was aber geschieht, wenn die mit Nanopartikeln getränkte Spezialsocke in der Waschmaschine landet?

Auskunft gaben: Bernd Nowack von der EMPA über seine Arbeit "The Behavior of Silver Nanotextiles During Washing" und Renata Behra von der EAWAG, die sich mit der Oekotoxizität von Nanosilber befasst.

Dienstag, 1. Dezember 2009

Datenbanken regieren die Welt - auch an der Uni Basel

Was David Gugerli in seinem Buch sehr anschaulich nachzeichnet (und wovon er in seinem Talk an der völlig unterberichteten ["underreported" gibt's leider noch nicht auf Deutsch] Konferenz "Society of the Query" [Nein, ich war nicht dort, wär's aber gern gewesen] erzählte), manifestiert sich zum Beispiel ganz aktuell auch an der Uni Basel. Da argumentiert der Vizerektor im Interview mit der Hauszeitung auf die Frage, was die neue Forschungsdatenbank soll:
Die Datenbank kann als zusätzliches Instrument dienen, um Forschungsleistungen zu messen. Im Hinblick auf eine leistungsorientierte Mittelallokation kann es für die Forschenden von Vorteil sein, ihre Leistungen in der Datenbank sichtbar zu machen.
Nur wer in einer Datenbank existiert, existiert überhaupt. Und nur wer damit totale Transparenz herstellt (wer kann etwas gegen Transparenz haben...?), liefert messbare Leistung, und nur wer messbare Leistung liefert, bekommt - im übertragenen Sinne - zu Essen. Wie war das noch mit dem Protest der Studierenden? Die zunehmende Oekonomisierung ist einer ihrer Kritikpunkte. Das scheinbar harmlose, neutrale Instrument einer Forschungsdatenbank (wer kann da dagegen sein?) ist erklärtermassen das zentrale Instrument genau dafür. Was dort drin steht, was damit verglichen wird / vergleichbar gemacht werden soll, darum müsste wohl gestritten werden. Eine Debatte über die richtigen Felder auf der Eingabemaske? So absurd es klingt: Ja! Denn im Zeitalter der Datenbanken wird anhand der Eingabemasken die Zukunft strukturiert!
Interessant ist zudem Meier-Abts Antwort auf die Pseudofrage "Soll die Forschungsdatenbank auch eine Brücke zur Industrie schlagen?"
Das ist klar eines der Ziele. Die grossen Pharmakonzerne kennen zwar bereits heute viele Forschende und ihre Projekte, an denen sie interessiert sind. Es bestehen aber Lücken und ein grosses Bedürfnis nach einer umfassenden Information. Dann geht es vor allem auch um kleine und mittlere Unternehmen, die über die Datenbank nach Projekten suchen können, bei denen eine Zusammenrbeit infrage kommt.
Auf Elektrisch heisst das: Big Pharma will eine API-Schnittstelle zur Uni. Wie im Begleitartikel in "intern Dezember 2009" zu lesen ist, stellt die Forschungsdatenbank zudem nur eine Teil-Transparenz her. Wir lesen:
Die Forschungsdatenbank publiziert nicht automatisch Daten - schon nur aus Datenschutzgründen nicht. Confidential Agreements können berücksichtigt werden, indem man versteckt publiziert, wodurch die Projekte dann nur für die interne Jahresberichterstattung zur Verfügung stehen.
Was kann so heikel sein an der Uni, dass es nicht in der Forschungsdatenbank, einsehbar für die Oeffentlichkeit, auftauchen darf? Zielgerichtete, patentrelevante Auftragsforschung für Big Pharma? Oder andersrum: Forschung, die mit ihren Ergebnissen deren Interessen zuwiderlaufen könnte? Niemandem sei hiermit irgendwas unterstellt. Aber wer Oeffentlichkeit einerseits herstellt, aber dunkle Ecken belässt, müsste eigentlich genau erklären, wozu die dienen sollen.
Anekdotisch sei vermerkt: Es gab bereits eine Forschungsdatenbank an der Uni Basel. Die aktuelle Finanzdirektorin von Basel-Stadt, Eva Herzog, hatte die an ihrer vorherigen Stelle im Vizerektorat Forschung aufgegleist.

Montag, 16. November 2009

Kritiker des "Vorsorgeprinzips" hält keynote an Eröffnungssymposium des Schweizer Zentrums für Angewandte Humantoxikologie

Kommenden Donnerstag findet das Eröffnungssymposium des neu gestarteten Schweizerischen Zentrums für Angewandte Humantoxikologie statt in Genf (Programm, .pdf). Die Keynote hält Sir Colin Berry, ein offenbar prononcierter Kritiker des so genannten Vorsorgeprinzips. Formuliert in der Agenda21 der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio als:
Angesichts der Gefahr irreversibler Umweltschäden soll ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewißheit nicht als Entschuldigung dafür dienen, Maßnahmen hinauszuzögern, die in sich selbst gerechtfertigt sind. Bei Maßnahmen, die sich auf komplexe Systeme beziehen, die noch nicht voll verstanden worden sind und bei denen die Folgewirkungen von Störungen noch nicht vorausgesagt werden können, könnte der Vorsorgeansatz als Ausgangsbasis dienen.
Dieses Zentrum, insbesondere seine Unabhängigkeit, war hier schon verschiedentlich ein Thema. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl Berrys als Keynotespeaker gleich am Eröffnungssymposium und mit dem Thema "Public mistrust, indifferent science and the problems for regulation" forschungspolitisch interessant. Vertritt er eine Haltung, mit der die Verantwortlichen des Zentrums sympathisieren? Hat er die Rolle des Agent provocateur, der alte Gewissheiten hinterfragen soll? Wird sein Publikum in Genf zustimmend nicken bei seiner Rede? Wird es kritische Rückfragen, vielleicht gar eine hitzige, kontroverse Diskussion geben? Man wüsst es gern. Vor 8 Jahren hielt Berry eine Rede über "Risk, science and society", die begann mit:
In the context of the safety of our day-to-day environment, we have become highly risk-averse. Our obsession with very small risks has reached a stage that results in damage to society. Further, the debate we have about these problems has a comparable value and intellectual content to the often-cited discussions in Byzantium about how many angels could dance on the head of a pin.
In einer ähnlichen Tonlage wird sein Vortrag am Donnerstag wohl auch liegen. Ueber ihre Aufgabe schreibt die Institution, die da u.a. mit Berrys keynote eingeweiht wird:
Our mission is to be the pioneer in Human Toxicology in Switzerland by carrying out essential research projects as well as providing educational and regulatory activities to help build a knowledge base on the subject.
Wie gesagt: Man wär gern am Donnerstag in Genf!

Mittwoch, 4. November 2009

Ersatz für Erdöl aus Wasser und CO2

Die Idee von Andreas Züttel und Heinz Berke, vorgestellt in den EMPA News vom Juli 2009 (siehe unten), klingt verlockend: Per Photovoltaik Strom erzeugen, der Wasser spaltet, dessen Wasserstoff mit CO2 aus der Luft zu einem Brennstoff reagieren soll. Voilà, ein Energieproblem weniger... Wie allerdings "aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen" zu hören ist, trifft ihre Idee für ein eigenes NFP "Nichtbiogene erneuerbare Energieträger" nicht nur auf Gegenliebe. Wir bleiben dran.

MSNBC Nightly News über Bericht von Consumers Union zu BPA in Konservendosen


Auslösende Publikation von CU. In der NN-Ausgabe vom 3.11., gefunden via Twitter.

Dienstag, 3. November 2009

Aus dem Archiv: Bisphenol A BPA in Wissenschaft DRS2

Mein Beitrag in der Ausgabe vom 24.5.08: Bisphenol A, wichtiges Ausgangsmaterial in der Kunststoffherstellung, bringt den Hormonhaushalt durcheinander. Das belegen viele Tierversuche, unter anderem auch solche der ETH Lausanne. Kanada und die USA diskutieren bereits, den Stoff aus Babyflaschen zu verbannen. Das Bundesamt für Gesundheit wartet auf eine Neubeurteilung des Stoffes durch die europäischen Behörden.

Samstag, 31. Oktober 2009

News in progress: Papierhersteller reagieren auf Artikel in ScienceNews

Nach dem Artikel von Janet Raloff, scheinen bei Produzenten und Grossisten die Alarmglocken geschellt zu haben. Ritemade, ein Händler, publiziert Briefe und Dokumente der Thermopapier-Hersteller und der Ritemade-CEO schreibt im Begleitbrief:
A recent article published in an on-line web magazine has generated interest in BPA (Bisphenol-A) as it relates to thermal paper used for POS receipt tape. BPA or a similar agent, BPS is used by all mills to make thermal paper. BPA is an organic compound that has been used commercially for nearly a century. It is an important building block of several important plastics and plastic additives.
Many years ago someone noticed that there were certain similarities between the chemical structure of BPA and estrogen. Due to this similarity the question was raised as to whether BPA might pose risks similar to estrogen if absorbed through the skin or ingested in some manner. There is no scientific evidence that BPA poses such a risk.
Hersteller und Branchenverband schreiben z.B. (Hier als backup ein Ersatzlink, falls das Dokument unter seiner ursprünglichen Adresse bei ritemade.com plötzlich nicht mehr erreichbar sein sollte - dito für die "Safety Sheets" der Thermopapiere: Original, backup):
Koehler: All studies have proven that the Koehler paper examined is non-hazardous, non-irritant and non-sensitizing.
European Thermo Paper Association (c/o AC-Fiduciaire SA. Tödistrasse 47, P.O. Box 1507, CH-8027 Zürich): All the scientific results so far - on an international, European as well as national level - nevertheless allow for one final conclusion only: BPA has to be classified as harmless with respect to human health as well as the environment.
Eine klare Aussage. Soviel steht fest...

Sonntag, 25. Oktober 2009

Altpapierkreislauf in der Schweiz

ZPK-Daten über Altpapierkreislauf
Weitere Zahlen, gefunden - wie obige Grafik - auf altpapier.ch:
Verbrauch und Sammlung von Altpapier...
Der WWF hat im April 2009 eine Kampagne für mehr Recyclingpapier im Haushalt gefahren, die nützliche Zahlen brachte:
WWF Test
1/5 des Toilettenpapiers besteht also im Schnitt aus Recycling. Nächste Frage: Pro Kopf Verbrauch?
Hygienepapier pro Kopf
21 kg pro Kopf pro Jahr = 57g pro Tag. Wieviel davon ist WC-Papier? Für Europa steht im gleichen Papier des WWF (.pdf):
Wieviel davon ist Toilettenenpapier?
Also rund 60%. 57g * 0,6 = 34g WC-Papier pro Kopf und Tag. Scheint intuitiv eine vernünftige Grössenordnung zu sein. Nächste Frage: Beitrag zu BPA-Fracht im Abwasser?

Berechnungsweise 1: 20% davon ist rein aus recycliertem Material (siehe weiter oben). 34g * 0,2 = 6,85g. Gehring et al. messen in ihren Proben aus Recycling-WC-Papier 45mg/kg DM BPA (also ein Anteil von 45 Millionstel oder 0,000045). 6,85g * 0,000045 = 6850mg * 0,000045 = 0,3 mg BPA / Person pro Tag via Toilettenpapier in die Umwelt entlassen. Aus den Papierfasern werden etwa 30% ausgewaschen. Der Rest landet in irgendwelchen Feststoff-Filtern (Gitter, Sandfilter usw.). Ergo: 0,1 mg BPA/d in den durchschnittlich rund 50L Spülwasser => 0,1mg = 100ug = 100'000ng / 50 = 2000ng/L.

Berechnungsweise 2: Gehring et al. kommen auf einen BPA-Mittelwert von 31 mg/kg (31 Millionstel) für alle Toilettenpapiere. Für die Schweiz hiesse das: 34'000mg * 0,000031 = 1 mg / Person / Tag. Auswaschung = 30% => 0,3mg pro 50 Liter = 300'000ng / 50 = 6'000ng/L.

In der ARA Regensdorf vor der Klärung gemessen (Tab. 14, hier @ issuu): 4'500ng/L.

Kommt das BPA im Input zur Kläranlage vollständig aus dem Toilettenpapier? Für die todo-Liste: Mehrere WC-Papiere ab der Stange auf BPA-Gehalt untersuchen. Einschlägige Spezialpapiere (Tickets, Quittungen usw.) sowieso!

Weiterhin offen: Woher kommt das BPA im Toilettenpapier? Aus recyclierten Spezialpapieren sehr wahrscheinlich. Aber wie ist das festzumachen? Das fiel schon Gehring (Kapitel 5.4) schwer:
In diesen Fällen könnte während der Altpapier- verarbeitung eine Akkumulation von BPA in oder an der Faser stattgefunden haben. Auch ein deutlich höherer BPA-Gehalt im für die Herstellung der untersuchten Toilettenpapierchargen verarbeiteten Altpapier kommt als Grund in Betracht. (...) Wie die Analysen der Altpapierfraktionen zeigen (Kapitel 4.3), ist es im Laufe der Zeit zu einer allgemeinen Verteilung von BPA im Papierkreislauf gekommen. Zellulosen dagegen sind nicht mit BPA belastet (Tabelle 4-7). BPA wird also der Altpapierverarbeitung nicht nur durch Thermopapier, das meist BPA als Komponente der Farbentwicklungsschicht enthält, sondern auch durch das andere Altpapier zugeführt. Aufgrund der Kreislaufführung der Prozeßwässer kommt es vermutlich sowohl im Schlamm als auch im Wasser und in den zuvor nicht oder wenig belasteten Fasern zu einer Aufkonzentrierung von BPA, Untersuchungen darüber liegen nicht vor. Insgesamt lassen die hier untersuchten Proben eine Bilanzierung der BPA-Massenströme im Papierkreislauf und in Schlämmen und Abwasser nicht zu. Zu diesem Zweck müßte eine repräsentative Zahl an Proben aus allen Teilströmen des Papierkreislaufes und aus den Abfall- und Abwasserströmen untersucht werden.

Der Weg von Bisphenol A BPA von Neupapier bis Recyclingprozess


Basierend auf den Zahlen im "Updated European Risk Assessment Report - 4,4’-ISOPROPYLIDENEDIPHENOL (BISPHENOL-A) (2008)" Seiten 18 ff, hab ich mal die eine Seite, den Input in die Umwelt, zum besseren Verständnis veranschaulicht. Apples "Keynote" is your friend... Als nächstes such ich die "end of pipe" Zahlen zusammen, also was in den Oberflächengewässeren, den Abwasserreinigungsanlagen, im Toilettenpapier usw. zu finden ist.

Donnerstag, 22. Oktober 2009

News in progress: Bisphenol A BPA in Spezialpapieren

Meine - wissentlich naive - Frage an Vertreter der Papierindustrie im Zusammenhang mit Recherchen zu dem Thema:
Das Bundesamt für Umwelt BAFU schlägt im Bericht „Mikroverunreinigungen in den Gewässern“ vor, 100 ARAs auszubauen für mindestens 1,2 Milliarden Franken, um die Belastung mit Mikroverunreinigungen zu reduzieren: Wenn Toilettenpapier aus BPA-belastetem Recyclingmaterial als relevante Quelle identifiziert werden kann für BPA in den Gewässern, wäre die Papierindustrie dann bereit, sich an den Ausbaukosten für die ARAs zu beteiligen?
Deren joviale Antwort:
(...) Die Idee, dass sich die Papierindustrie an den Ausbaukosten für ARAs beteiligen soll, ist wahrscheinlich spät abends, nach dem zweiten Bier entstanden (...)
Äh, Nein. Warum? Anderswo heisst das Verursacherprinzip. Die Papierindustrie stellt sich offenbar präventiv schon mal auf den Standpunkt, die Kosten für die Entfernung eines Stoffes, der möglicherweise (da stehen noch Resultate aus) via ihre Produkte ins Abwasser gelangt, soll alleine die Oeffentlichkeit tragen via ARA-Aufrüstung. Auch eine Haltung. Immerhin meinten sie schliesslich:
Wenn sich herausstellen sollte, dass Bisphenol A ein echtes Problem ist, dann sollte man es verbieten. Aber das entscheiden die Toxikologen und der Staat.

Limit - von Frank Schätzing

Moderation:
Frank Schätzing landete vor einigen Jahren einen Bestseller mit seinem Science-Fiction Buch "Der Schwarm". Darin revoltierte, gesteuert aus den Tiefen der Weltmeere von einer bisher unbekannten Lebensform, die Tierwelt gegen die Umweltzerstörung der Menschen. Jetzt ist von Schätzing ein neuer Thriller erscheinen: "Limit" heisst er. Aus den Meerestiefen verlegte Schätzing sein Szenario in den Weltraum und auf den Mond. Von dort holen Transportraumschiffe die Ressourcen, um das Energieproblem auf der Erde zu lösen. Was den Erdölkonzernen aber gar nicht passt...
Beitrag:
Der Sonnenwind lässt im Mondboden ein Element entstehen, das Helium3 heisst. Helium3 ist der ideale Brennstoff für Fusionsreaktoren auf der Erde. Denn wenn Helium3 darin verschmilzt, entsteht so gut wie kein radioaktiver Abfall, aber es werden riesige Energiemengen frei. China und Russland haben tatsächlich verkündet, ihre Langfristperspektive sei es, das Helium3 auf dem Mond darum abzubauen. Insofern liegt Frank Schätzings Szenario gar nicht so weit weg von der Realität. In seinem "Limit" bauen Chinesen und Amerikaner auf dem Mond mit riesigen Robotern das Helium3 ab und schicken es zur Erde.
Wem das gar nicht passt, das sind die Erdölkonzerne, die's einfach nicht mehr braucht und denen die Felle davonschwimmen. Dieser Konflikt ist der Motor in Schätzings Wälzer von 1304 Seiten. Der Motor kommt aber erst mal nicht in die Gänge. Denn dass da etwas faul ist, wird erst nach fast 400 Seiten klar. Bis dahin plätschert das bisschen Handlung recht balanglos vor sich hin. 400 Seiten lang sind wir dabei, wie eine bunte Reisegesellschaft von Milliardären sich so langsam langsam auf den Weg macht zum ersten Luxushotel auf dem Mond.
Es hat sogar einen Schweizer dabei. Der Oegi heisst. Und am liebsten Zürigschnetzeltes isst im einschlägigen Zürcher Nobelrestaurant. Dieses Klischee steht für viele andere, mit denen Schätzing die Leserinnen und Leser geradezu belästigt über viele Seiten. Klischees und ausführliche enzyklopädisch trockene technische Beschreibungen. Fast hätt ich darum den Wälzer beiseite gelegt. Erst, als die Atom-Bombe auf dem Mond zu ticken beginnt, auf Seite 800, wird's dann doch noch spannend. Gelingt das Komplott der Erdölmafia gegen die Helium3-Saubermänner? Wer Schätzings "Der Schwarm" gelesen hat, ahnt bereits, dass auch in "Limit" am Ende doch noch alles gut ausgehen wird...
Technisch und zeitgeschichtlich ist der Autor auf der Höhe der Gegenwart. Sogar die aktuelle Finanzkrise hat's noch geschafft ins Manuskript. Da und dort trifft man auch Bekannte an: Erich von Däniken kommt vor. Oder: David Bowie, als fast 80 Jahre alter Barpianist im Weltraumhotel zum Beispiel. Oder Mies van der Rohe als Inspirator für die Weltraumarchitektur. Und viele weitere. Aber das aufgebotene Personal wirkt etwas gar absichtlich auf die Handlung aufgeschraubt. Man merkt die Absicht und ist leicht verstimmt.
Wer Schätzings Technikfantasien liebt, wird "Limit" trotz der dramaturgischen Durststrecke im ersten Drittel mögen. Wer den Autor nicht kennt, und auf thriller-Spannung aus ist, muss sich das Adrenalin mit Ausdauer verdienen.

War in der Form heute im DRS2aktuell.

Donnerstag, 15. Oktober 2009

Bisphenol A (BPA) im Papier?

Das hormonaktive BPA in Spezialpapieren? Mal schauen, was der Verband der Schweizerischen Zellstoff-, Papier- und Kartonindustrie (ZPK) dazu meint. Mein E-Mail:
Vor kurzem stiess ich auf diesen Artikel. Er weist darauf hin, dass in gewissen Spezialpapieren ("carbonless copy papers") der hormonaktive Stoff Bisphenol A (BPA) verwendet wird. BPA war eine der Chemikalien, die auch das Nationale Forschungsprogramm 50 über „Endokrine Disruptoren“ beschäftigten. Meine Fragen: Wie beurteilen Sie diesen Artikel? Welche Papierarten in der Schweiz fallen in dieselbe Kategorie und werden unter Verwendung von BPA hergestellt? Können Sie abschätzen, in welchen Mengen diese Papiere hierzulande eingesetzt werden?
Die Antwort steht noch aus.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Warum der LHC-Start aus quantentheoretischen Gründen scheitern musste

Kollegin Hanna Wick von der NZZ hat mich hingewiesen auf den NYT-Artikel über die quantentheoretisch begründete Vermutung von Nielsen & Ninomiya anno '07, dass der LHC-Start anno '08 in die Hosen gehen werde, weil in Sachen Higgs-Teilchen vielleicht die Zukunft die Vergangenheit beeinflusse! Oder, wie hier über ein Jahr vor dem Startversuch (we were there) kommentierend zu lesen war:
Therefore - if this hypothesis is true - the LHC is likely to suffer an accident and has to be shut down.
Was ja dann auch passierte... Demnächst übrigens: der 2. Versuch. Verwirrend und spannend to say the least! U.a. beim New Scientist wird schon heftig diskutiert.

Donnerstag, 10. September 2009

Die Modefarben vor 30'000 Jahren waren...

... dunkelgrau und türkis. Etwas zugespitzt liesse sich das herauslesen aus der Arbeit "30000-Year-Old Wild Flax Fibers", die am Freitag in Science erscheint. Einer der Autoren ist Ofer Bar-Yosef. Sein Studienkollege, Jean-Marie Le Tensorer, Professor am Institut für prähistorische und naturwissenschaftliche Archäologie (IPNA) der Uni Basel, hat mir ausführlich über die Bedeutung des Fundes, den sein Freund getätigt hat, Auskunft gegeben. Länge: 13:30.

spektrumdirekt, scienceticker und andere haben's auch von der recht spektakulären Entdeckung.

Sonntag, 2. August 2009

Macht Rauchen Junge rebellisch oder führt Rebellieren Junge zum Rauchen?

So etwa lautet die Frage, auf die auch die jüngste Arbeit aus dem Hause Gutzwiller, Angst & Co keine Antwort liefert... Nachdem sie die 10 bis 30 Jahre alten Daten, die zwischen '79 und '99 bei einigen hundert Zürcherinnen und Zürchern während 6 Interviews erhoben wurden, ausgewertet hatten, kamen 8 Fachleute, darunter Jules Angst und Felix Gutzwiller, zur Erkenntnis, dass wer vor 20 mit Rauchen anfängt, ein stark erhöhtes Risiko hat, schwer depressiv, chronisch depressiv verstimmt oder manisch-depressiv zu werden. Wer früh raucht, hat zudem sehr wahrscheinlich auch rauchende Eltern, ist extrovertiert, hat Probleme mit Disziplin und neigt zur Rebellion in jungen Jahren.
Adolescent onset of smoking was associated strongly with later major depression, dysthymia or bipolar disorders and, furthermore, with parental smoking, extroverted personality and discipline problems and rebelliousness in youth.
Das steht so im Abstract des Artikels "Adult versus adolescent onset of smoking: how are mood disorders and other risk factors involved?" in der jüngsten Ausgabe des Fachblattes "Addiction". Nun ja, die 80er Jahre (Start der Studie) waren ja für die um 1960 geborenen tatsächlich ein trauriges Jahrzehnt, gerade in Zürich, wo die Befragten alle herkommen! Jedenfalls sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu geniessen! Und nicht zu verallgemeinern. Denn anderenorts schrieb der Zürcher Psychiater Jules Angst, "Vater" der so genannten "Zürcher Studie", aus deren Datenmaterial auch die rebellischen Raucher herausgequetscht wurden, über die Limitierungen seiner Studie:
LIMITATIONS: The data are based on a relatively small sample; a single age cohort, and the study was conducted in Zurich, Switzerland. These study features may diminish the generalisability of the findings.
Wir müssen allerdings bis zur Seite 27 der Publikation "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie" des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums "Obsan" gehen, um herauszufinden, wie limitiert die Studie tatsächlich ist. Dort lesen wir, dass schon die ursprüngliche Zusammensetzung der Befragten alles andere als neutral war, sondern mit einem deutlichen Uebergewicht an Personen, die in einem Vortest als gefährdeter erschienen:
Als Motiv für die gewählte Stichprobenschichtung ist natürlich die erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von psychischen und somatischen Symptomen und Störungen im Segment der High-Scorer zu nennen.
Und von den 591 schliesslich als Stichprobe gewählten, darunter 2/3 mit von Beginn weg einer "erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von psychischen und somatischen Symptomen und Störungen" im Laufe der Zeit, sprang zudem rund die Hälfte ab:
Von den 591 TeilnehmerInnen der ersten umfassenden Befragung 1979 sind über die Befragungen 1981, 1986, 1988, 1993 und 1999 hinweg jeweils durchschnittlich 10 % der Befragten als Drop-Outs ausgeschieden. An der letzten Befragung 1999 beteiligten sich etwas mehr als 60% des Ausgangssamples. 47% der Befragten haben an allen sechs Befragungen teilgenommen.
Gerade noch 277 Zürcherinnen und Zürcher hat die Studie also tatsächlich über die 20 Jahre verfolgt und sind somit auch die hautpsächlichen DatenlieferantInnen für die Raucherstudie. "Repräsentativ" und "aussagekräftig" geht eigentlich anders... Aber wetten, Präventivmediziner werden die Studie hemmungslos einsetzen bei der nächsten passenden oder unpassenden Gelegenheit! Etwa im Sinne von: "Die Wissenschaft hat rausgefunden, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Rauchen in der Jugend und depressiv werden später!" Klingt zwar dramatisch, aber stimmt so nicht. Klar: Rauchen ist doof. Niemand küsst gerne einen Aschenbecher! Und man sollte erst gar nicht mit qualmen anfangen. Geschenkt! Schade um's Geld und schade um die Gesundheit. Aber ob solche Studien wirklich die richtigen Argumente gegen die Tabakindustrie liefern, wage ich zu bezweifeln.

Dienstag, 21. Juli 2009

Erster Teil der Roundup-Bewilligungs-Unterlagen ist eingetroffen

Gestern Montag sind per Einschreiben eingetroffen auf meinen Antrag hin:
- Bewilligung des Produktes Roundup vom 30. Oktober 2003 (2 Seiten)
- Einstufungsverfügung "Roundup" vom 1. Oktober 2007 (2 Seiten)
Der Bewilligung von 2003 ist zu entnehmen, dass Monsanto am 14. September 1982 (!) das Erstgesuch gestellt hatte. Seither änderte sich das Zulassungsregime wohl einige Male. Drum die aktuelle Datierung: 2003. Die heute eingegangene Bewilligung entspricht wortwörtlich dem, was darüber auf der Website des BLW steht. Insofern ist dies redundante Information.

Die Einstufungsverfügung ist interessanter, denn sie hält fest, dass ein Stoff neu zusätzlich als Inhaltsstoff zu deklarieren ist: das POEA, ein Hilfsstoff in Roundup. Davon ist seit 2003 bekannt, dass es für sich alleine für Wasserorganismen toxischer ist als mit Glyphosat verarbeitet zum Handelsprodukt Roundup. Zum selben Befund kam eine Studie von Seralini et al. 2008 für menschliche Zellen (über die Studie und ihre Auswirkungen berichtete RBB vor kurzem)

Ob mir zusätzliche Dokumente ausgehändigt werden "dürfen", sei noch Gegenstand weiterer Abklärungen, heisst es im Begleitbrief. Es wird in Aussicht gestellt, dass bis Mitte August eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Grundlagen der Bewilligungserteilung vorliegen werde.
Weitere Dokumente aushändigen "dürfen"? Eine Zusammenfassung? Von wem verfasst? Und was fehlt darin dann warum? Nein, nein, die Arbeit könnte sich das Amt eigentlich sparen. Denn mein Antrag bezog sich auf die "Einsicht in alle Unterlagen, die die Grundlage bildeten für die Zulassung des Produktes mit der Handelsbezeichnung "Roundup", eidg. Zulassungsnummer W-2604. Einer "Zusammenfassung" fehlen unter Umständen die entscheidenden Teile, was vom Amt wohl mit einer der Ausnahmen zum Oeffentlichkeitsprinzip begründet werden wird...

Die relevante Frage ist: Lassen die Unterlagen, die das Bundesamt schliesslich öffentlich macht, erkennen, wie die Toxizitätstests mit Roundup durchgeführt wurden? Wurde nur das als Wirkstoff bezeichnete Glyphosat getestet? Oder das Endprodukt Roundup, so wie's schliesslich im Regal steht? Und: Wer hat getestet? Und: Wie alt sind die massgeblichen Tests? Mal schauen, was kommt Mitte August.

Montag, 13. Juli 2009

Kunststoffverpackungen und endokrine Disruptoren (durch Glas betrachtet...)

The Globe and Mail aus Toronto berichtet über eine Literaturstudie zum Anteil, den Nahrungsmittelverpackungen haben an den hormonaktiven Substanzen, denen wir ausgesetzt sind. Autorin ist die in Cham, ZG, arbeitende Jane Muncke. Sie geht, laut Abstract, in ihrem Artikel in "Science of The Total Environment" Volume 407, Issue 16, vom 1. August 2009, Seiten 4549-4559, von dieser Hypothese aus:
The core hypothesis of this review is that chemicals leaching from packaging into food contribute to human EDCs exposure and might lead to chronic disease in light of the current knowledge.
Sie kommt nach der Durchsicht der Literatur zum Schluss:
The widespread legal use of EDCs [endocrine disrupting compounds] in food packaging requires dedicated assessment and should be updated according to contemporary scientific knowledge.
Das stimmt wohl. Aber ein wenig irritiert es doch, dass mit diesem Artikel eine Vollzeitangestellte einer Firma, die Maschinen zur Herstellung von Glasbehältern verkauft, den Finger auf die wunden Punkte bei den Produkten der Konkurrenz, den Plastikgefässeherstellern, legt. Soweit mir bekannt, sind EDCs nur bei Plastikbehältern oder mit Plastik oder Lack ausgekleideten Gefässen (Blech- / Alubüchsen etc.) ein Thema, nicht aber bei reinen Glasflaschen. Da mag Muncke wohl hundertmal recht haben, ihre Position ist in der Konstellation leicht angreifbar. Disclaimer: Ich habe nicht den ganzen Artikel gelesen. Der würde 31$ Kosten. Abriss! Open Access sollte endlich Standard werden! Vielleicht ist die Autorin darin ja irgendwo auf diesen Umstand eingegangen.

Montag, 6. Juli 2009

Haben Nitrosamine etwas mit Alzheimer, Parkinson und Diabetes zu tun?

Die Aerztin Suzanne de la Monte postuliert anhand statistischer Daten einen Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Nitrat in der Landwirtschaft und Nitrit als Konservierungsmittel (Nitritpökelsalz) für u.a. Fleischprodukte und der wachsenden Zahl von Alzheimer-, Parkinson- und Diabetesfällen:
Led by Suzanne de la Monte, MD, MPH, of Rhode Island Hospital, researchers studied the trends in mortality rates due to diseases that are associated with aging, such as diabetes, Alzheimer's, Parkinson's, diabetes and cerebrovascular disease, as well as HIV. They found strong parallels between age adjusted increases in death rate from Alzheimer's, Parkinson's, and diabetes and the progressive increases in human exposure to nitrates, nitrites and nitrosamines through processed and preserved foods as well as fertilizers. Other diseases including HIV-AIDS, cerebrovascular disease, and leukemia did not exhibit those trends. De la Monte and the authors propose that the increase in exposure plays a critical role in the cause, development and effects of the pandemic of these insulin-resistant diseases.
De la Monte, who is also a professor of pathology and lab medicine at The Warren Alpert Medical School of Brown University, says, "We have become a 'nitrosamine generation.' In essence, we have moved to a diet that is rich in amines and nitrates, which lead to increased nitrosamine production. We receive increased exposure through the abundant use of nitrate-containing fertilizers for agriculture." She continues, "Not only do we consume them in processed foods, but they get into our food supply by leeching from the soil and contaminating water supplies used for crop irrigation, food processing and drinking."

Ihr Artikel (das ist der Medientext dazu) erschien in der Zeitschrift Journal of Alzheimer's disease. De la Monte betrachtete die Anzahl Todesfälle einiger Krankheiten, die mit Altern in Verbindung gebracht werden: Alzheimer, Parkinson, Diabetes, Hirnschlag und HIV. Alzheimer, Parkinson und Diabetes zeigten offenbar Aufwärtstrends parallel zum wachsenden Einsatz von Nitrat und Nitrit (was zu mehr Nitrosaminen führt). Die Zahl der Fälle von HIV, Hirnschlag und Leukämie folgen diesen Kurven nicht. Daraus leitet de la Monte ihr Postulat ab.
Zum Thema Krebs und gepökeltes Fleisch hat die Forschungsanstalt Agroscope Liebefeld-Posieux ALP eine eindeutige Meinung. Bei dieser Institution heisst es recht entschieden:
Der Verzehr gepökelter Fleischwaren wird oft als gesundheitliches Risiko angesehen, da sie Nitrit enthalten, welches unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. im sauren Milieu des Magens) mit Aminosäuren zu Krebs erregenden N-Nitrosaminen reagieren kann. Es gibt jedoch keine epidemiologischen Beweise, dass Nitrat und Nitrit die Karzinogenese im Menschen fördern.
Vielleicht hat De la Monte mit dem Hinweis auf die Korrelation zwischen Nitrat/Nitrit Einsatz und Alzheimer, Parkinson und Diabetes einen Zusammenhang entdeckt, an den bisher noch gar niemand dachte. Aber wie immer gilt natürlich auch hierzulande: Korrelation hesst nicht zwingend Kausalität.

UPDATE / ADDENDUM: Das US National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS) investiert gut 21 Millionen $ in die Suche nach Umweltfaktoren, die bei Parkinson eine Rolle spielen.

Freitag, 3. Juli 2009

Antrag auf Einsicht in die Schweizer Bewilligungsunterlagen für Roundup

Grad vorhin folgendes Mail abgeschickt:
Sehr geehrter Herr Felix [Olivier Félix ist Leiter der entsprechenden Abteilung]
Hiermit bitte ich Sie um Einsicht in
1. alle Unterlagen, die die Grundlage bildeten für die Zulassung des Produktes mit der Handelsbezeichnung „Roundup“, eidg. Zulassungsnummer W-2604
2. den Bewilligungsentscheid der Zulassungsbehörde bezüglich des obengenannten Produktes.
Ich berufe mich dabei auf das „Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung“, Artikel 6. Gemäss Absatz 2 des Artikels 6 bitte ich Sie, mir davon eine Kopie zu schicken an:
[Büroadresse]
Alternativ können Sie mir die Dokumente in elektronischer Form schicken an meine private E-Mailadresse: xxxxxxx

Ich habe Kenntnis davon genommen, dass der Zugang zu amtlichen Dokumenten grundsätzlich kostenpflichtig ist. Bitte senden Sie eine allfällige Rechnung an die oben erwähnte Adresse. Sollten die Kosten voraussichtlich über CHF 100.- betragen, bitte ich Sie darum, mich darüber zu informieren, und mir eine Bedenkfrist einzuräumen.
Innert 20 Tagen sollte das Gesuch behandelt sein. Mal schauen... Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte hat übrigens freundlicherweise ein Merkblatt für solche Anfragen und ein FAQ dazu publiziert.

Geht mir grad durch den Kopf: Wird eigentlich in der Ausbildung des journalistischen Nachwuchses darauf hingewiesen, dass es dieses Oeffentlichkeitsprinzip gibt und wie es für journalistische Zwecke einzusetzen ist? Hallo MAZ? Traurigerweise kommt eine Auswertung der bisherigen Wirkung des BGoE zum Schluss:
Da das Gesetz von den Bürgerinnen und Bürgern wenig genutzt wird, bleibt es im Endeffekt schwierig, eine Aussage darüber zu machen, ob das Gesetz seinen eigentlichen Zweck erfüllt: den Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu den Dokumenten der Verwaltung zu verschaffen.
Das muss ja nicht so bleiben!

Donnerstag, 2. Juli 2009

Wann muss die Roundup-Bewilligung in der Schweiz überprüft werden?

In der Verordnung über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln steht:
Art. 21
Überprüfung
1 Die Zulassungsstelle kann eine Bewilligung jederzeit überprüfen.
2 Sie muss eine Überprüfung vornehmen, wenn ihr neue Informationen vorliegen oder wenn es Anzeichen dafür gibt, dass die geltenden Bewilligungsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt sind.
Olivier Félix, Chef der Abteilung Produktionsmittel im Bundesamt für Landwirtschaft (BWL), hatte ich heute kurz am Telefon und habe ihm von den Papers von Séralini erzählt, die er noch nicht kannte (hat Monsanto die Informationspflicht verletzt?). Daraufhin habe ich Felix ein Mail geschickt mit den Links zu den beiden Publikationen. Gilt dies nun schon als "neue Informationen", die der Bewilligungsstelle vorliegen, wonach sie eine Überprüfung des Roundup-Dossiers vornehmen "muss"? Wohl nicht unmittelbar. Aber ein erster kleiner Schritt in die Richtung ist es vielleicht. Der Inhalt des Monsanto-Dossiers ist, laut Felix, nicht-öffentlich. Nur der abschliessende Befund der Bewilligungsstelle. Die Grundlagen für den Bewilligungsentscheid, also die Unterlagen, die z.B. Monsanto einreichen musste dafür, die bleiben unter Verschluss. Wie war das mit dem Oeffentlichkeitsprinzip? Demgemäss gilt:
Jede Person hat das Recht, amtliche Dokumente einzusehen und von den Behörden Auskünfte über den Inhalt amtlicher Dokumente zu erhalten.
Und als amtliches Dokument gilt:
jede Information, die:
a. auf einem beliebigen Informationsträger aufgezeichnet ist;
b. sich im Besitz einer Behörde befindet, von der sie stammt oder der sie mitgeteilt worden ist; und
c. die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe betrifft.
Die Entscheidgrundlage für die Bewilligung eines Pflanzenschutzmittels liesse sich verstehen als ein amtliches Dokument, das "die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe" betrifft. Insofern müsste es eigentlich möglich sein, die Monsanto-Unterlagen einzusehen. Oder?

Gilles-Eric Séralini: Herbizide à la Roundup sind krebserregend, erbgutverändernd, fortpflanzungsgefährdend und endokrine Disruptoren

Gestern Mittwoch, wie angekündigt, Gilles-Eric Seralini am Telefon befragt zu seinem Paper darüber, was Glyphosat Formulierungen wie Roundup mit menschlichen Zellen anrichten (Audio folgt in den nächsten Tagen). Der Corporate Blog von Monsanto verweist auf ein offizielles Firmenstatement dazu und fährt schwerstes Geschütz auf dagegen:
In my mind, Seralini’s data are worthless and irrelevant for safety assessment at best. At best, the data are misleading to those who have not sorted through the politics and emotion to get to the science, or do not have the scientific background to do so.
Einen kritischen Blick auf den Agrogiganten Monsanto wirft der Dokumentarfilm "The world according to Monsanto". Bin gespannt, ob und wie sich das neue "Zentrum für angewandte Humantoxikologie" zu dem Paper äussern wird. Habe dort per E-Mail um eine Stellungnahme gebeten, denn immerhin sind glyphosatbasierte Herbizide auch hierzulande weit verbreitet.
Der Agromulti muss seine PR-Leute (u.a. die Social Media Spezialistin?) schon bald wieder auf die Piste schicken, denn Seralini legte vor wenigen Tagen nach in "Toxicology"mit einem Artikel über den störenden Einfluss schon nur kleinster Mengen (0,5 ppm) glyphosatbasierter Herbizide auf die Wirkungsmechanismen von Hormonen (Communiqué von criigen dazu). Das macht diese Produkte in seinen Augen zu Kandidaten für den Status als endokrine Disruptoren:
Glyphosate-based herbicides provoke DNA damages, endocrine disruption in vitro, and CMR effects in vivo.
Im Interview fordert Séralini Monsanto zu vollster Transparenz und Ehrlichkeit auf, sonst könnte es den Firmenverantwortlichen eines Tages gehen wie Maddoff: 150 Jahre Gefängnis für den angerichteten Schaden.
Mehr demnächst.

Mittwoch, 1. Juli 2009

Couchepin offen für neue Mitglieder im Leitungsgremium des Humantox Zentrums

Maya Graf hat bei Bundesrat Couchepin nachgefragt in Sachen Unabhängigkeit des "Zentrums für angewandte Humantoxikologie". Anfang Juni hat er mündlich Stellung genommen und sich offen gezeigt für das Anliegen, dass weitere VertreterInnen der Zivilgesellschaft im Leitungsgremium Einsitz nehmen sollten. Na, wer sagt's denn!

Samstag, 20. Juni 2009

Panikattacken und Angstzustände - weit verbreitet oder massiv überschätzt?

Am vergangenen Freitag berichtete Stefan Stöcklin in der baz von diesem Science Artikel über einen neuen Wirkungsmechanismus für Psychopharmaka, dessen Co-Autoren u.a. von Novartis und Roche kommen.

Panikattacken und Angstzustände seien "verbreitete Störungen" schreibt er darin gleich zu Beginn. Dazu angeregt hat ihn wahrscheinlich der erste Satz des Papers in Science:
Anxiety disorders are highly prevalent disabling disorders
Die Fussnote dazu referiert auf einen Artikel von anno 2005 über die Prävalenz verschiedener psychischer Krankheiten gemäss Umfrage in den USA. Tabelle 2 in jener Publikation ist zu entnehmen, dass "any anxiety disorder" in der US-Bevölkerung gemäss dieser halbwegs repräsentativen Umfrag eine von gut vier Personen irgendwann Mal in ihrem Leben durchmacht. Das klingt nach viel. JedeR vierte AmerikanerIn hat demgemäss irgendwann im Leben (aktuelle Lebenserwartung: über 82) während einer kurzen oder längeren Phase, ein Mal oder mehrere Male etwas aus diesem Katalog: Panic disorder, Agoraphobia without panic, Specific phobia, Social phobia, Generalized anxiety disorder, Posttraumatic stress disorder, Obsessive-compulsive disorder, Separation anxiety disorder.
Der World Mental Health Survey, WMHS, vergleicht die Situation in mehreren Ländern. Diese Präsentation des WMHS (weitere Infos hier) stellt auf Seite 23 die 12-Monats-Prävalenz von Angststörungen in 17 Ländern nebeneinander. Daraus ist abzulesen: Jede 5. Person in den USA erlitt in den vergangenen 12 Monaten eine Angststörung (19%). Das ist der höchste Wert im internationalen Vergleich. In Israel, wo ich als einfacher Laie tendenziell deutlich mehr Fälle als in den USA vermuten würde aufgrund der dortigen Lebensumstände, erlitt nur jede 33. Person eine Angststörung (3%). In den USA sind also Angststörungen sechs Mal häufiger als in Israel. Deutschland liegt mit 8% im Mittelfeld. Die Schweiz ist im WMHS nicht erfasst.
Breiter gefasst sind die Zahlen auf Seite 22 derselben Präsentation. Dort werden die aufsummierten 12-Monats-Prävalenzen von allen psychischen Kankheiten gemäss internationalen Definitionen (WMH-CIDI / DSM-IV) verglichen. Die USA führen mit 27% (= 27% der AmerikanerInnen erlitten in den vergangenen 12 Monaten eine psychische Krankheit gemäss WMH-CIDI oder DSM-IV). Deutschland: 11%, Israel 10%, Nigeria 7% (tiefster Wert). Das heisst: In den USA sind psychische Krankheiten vier Mal häufiger als in Nigeria. Und immer noch knapp drei Mal häufiger als in Israel. Deutliche regionale Unterschiede scheinen vorhanden zu sein.
Die Situation hierzulande beschreiben Dokumente des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums. Dem fact sheet zur stationären Psychiatrie 2000 - 2006 ist zu entnehmen, dass in diesem Zeitraum recht konstant 50'000 PatientInnen jährlich stationär psychiatrisch behandelt wurden. Der Bericht Gesundheit in der Schweiz 2008 (2,6 MB, 374 Seiten) schreibt auf Seite 213 unter "Jahrespravalenz psychischer Erkrankungen"
Jedes Jahr erkranken etwa 25 bis 30 % der Bevölkerung erstmals oder wiederholt an einer psychischen Störung.

Damit wären wir im Bereich der Amerikaner, die's gemäss WMHS auf 27% bringen. Und um einen Faktor 2,5 höher als Deutschland. Auf Seite 214 steht in "Gesundheit Schweiz":
Dieselbe Grössenordnung psychischer Erkrankungshäufigkeit wurde auch für die Schweiz gefunden, beispielsweise in der so genannten «Zürich-Studie», die vor rund 30 Jahren gestartet wurde, auch leichtere Störungen erfasste und eine Lebenszeitprävalenz von 48 % ergab. Dies bedeutet, dass nahezu alle Menschen tief greifendes psychisches Leiden an sich selbst oder in ihrer nächsten Umgebung schon erfahren haben.

Die Datenlage für diese Aussage ist allerdings eher unklar, um nicht zu sagen sehr dünn und fragwürdig. Teilweise berufen sich die Autoren dieses Kapitels von "Gesundheit in der Schweiz 2008" auf den obsan-Bericht "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie". Dort steht auf Seite 27 und folgende:
Die mit Abstand wichtigsten Studien in der Schweiz sind die sogenannte Zürich-Studie von Jules Angst und die 1988-91 in Basel durchgeführte Studie von Hans-Rudolf Wacker.
Ueber Wackers Arbeit erfahren wir auf Seite 28 unter anderem:
Die Basler Studie wurde 1988-91 durchgeführt (Wacker, 1995). Die Stichprobe bildeten 470 Einwohner von Basel-Stadt, 261 Frauen und 209 Männer.
Zur Zürich Studie steht in "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie"
Das Sample der Zürich-Studie (Binder et al., 1982; Angst et al., 1984) geht einerseits aus einer Befragung anlässlich der militärischen Eintrittsmusterung der im Kanton Zürich wohnhaften Männer des Jahrgangs 1959 hervor sowie aus zusätzlich erhobenen Samples (im Kanton Zürich wohnhafte Schweizer Frauen des Jahrgangs 1958).

Die Teilnehmenden wurden 1978 einer Screening-Befragung unterzogen, in welcher u.a. die Symptom Check List SCL-90-R nach Derogatis (1977) zum Einsatz kam. Das Panel wurde anschliessend aufgrund einer stratifizierten Stichprobe gebildet, wobei als Schichtungskriterien das Geschlecht und die SCL-Werte verwendet wurden. Dabei waren die Befragten nach dem Screening in sogenannte High- und Low-Scorer unterteilt worden in Abhängigkeit davon, ob sie SCL-Scores über dem 85% Perzentil aufwiesen oder nicht. Die Panelstichprobe umfasste schliesslich etwa zwei Drittel High-Scorer und einen Drittel Low-Scorer. Die Low-Scorer sind gegenüber der Ausgangspopulation etwa um den Faktor 11 untergewichtet. Als Motiv für die gewählte Stichprobenschichtung ist natürlich die erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von psychischen und somatischen Symptomen und Störungen im Segment der High-Scorer zu
nennen.

Von den 591 TeilnehmerInnen der ersten umfassenden Befragung 1979 sind über die Befragungen 1981, 1986, 1988, 1993 und 1999 hinweg jeweils durchschnittlich 10 % der Befragten als Drop-Outs ausgeschieden. An der letzten Befragung 1999 beteiligten sich etwas mehr als 60% des Ausgangssamples. 47% der Befragten haben an allen sechs Befragungen teilgenommen.

Macht also 591 * 0,47 = 277 Personen, die die "Zürich Studie" über den gesamten Zeitraum erfasst. Etwas mehr über die Zürich Studie steht hier:
Angst Jules; Gamma Alex; Neuenschwander Martin; Ajdacic-Gross Vladeta; Eich Dominique; Rössler Wulf; Merikangas Kathleen R
Prevalence of mental disorders in the Zurich Cohort Study: a twenty year prospective study.
Epidemiologia e psichiatria sociale 2005;14(2):68-76.
BACKGROUND: In order to minimise retrospective recall in developing estimates of the prevalence of mental disorders in the general population, we conducted a prospective study of a cohort of youth from Zurich, Switzerland.
METHOD: A 20 year prospective study of a community-based cohort aged 19-20 from Zurich Switzerland. The sample was enriched by subjects scoring high on the Symptom Checklist 90 R (Derogatis, 1977). A semi-structured diagnostic interview was administered by clinically experienced psychologists and psychiatrists. The six interviews from 1979 to 1999 assessed diagnoses and sub-threshold manifestations of major diagnostic categories (with the exception of schizophrenia) for the past twelve months, depending on the current DSM versions (DSM-III, DSM-III R, DSM-IV). Additional information on symptoms and treatment were collected for the years between the interviews. The reported prevalence rates are weighted for stratified sampling and cumulate the one-year rates of the six interviews.
RESULTS: The cumulative weighted prevalence rates for any psychiatric disorder were 48.6% excluding, and 57.7% including tobacco dependence. In addition 29.2% and 21.8%, respectively manifested sub-diagnostic syndromes. Overall there were no significant gender differences. The corresponding treatment prevalence rates were 22.4% and 31.1%, respectively for the diagnostic subjects and 6.9% and 6.1%, respectively for the sub-diagnostic groups. The total treatment prevalence rate was 37.2% of the population (males 30.0%, females 44.1%).
CONCLUSIONS: Our findings reveal that psychiatric disorders are quite common in the general population. When the spectra of mental disorders are considered, nearly three quarters of the general population will have manifested at least one of the mental disorders across their lifetime.

Und ganz am Schluss, nach den dramatischen "Conclusions" (Raucher inbegriffen, erwischt es dreiviertel aller SchweizerInnen mindestens ein Mal im Leben mit einer "mental disorder") lesen wir dort:
LIMITATIONS: The data are based on a relatively small sample; a single age cohort, and the study was conducted in Zurich, Switzerland. These study features may diminish the generalisability of the findings.

Die Referenzstudie, auf die sich unter anderem "Gesundheit in der Schweiz" beruft mit der Aussage, für die Schweiz als ganzes gelte eine Lebenszeitprävalenz von 48 % für psychische Störungen, umfasst also gerade mal 277 Männer des Jahrgangs 1958 und Frauen des Jahrgangs 1959 über gut 20 Jahre ('79 bis '99) und sagt von sich selber, ihre Anlage (nur eine Alterskohorte, nur Personen aus Zürich) reduziere die Verallgemeinerbarkeit ihrer Erkenntnisse. Und trotzdem ist sie die offenbar wichtigste Quelle für die genau genommen nicht haltbare Aussage in "Gesundheit in der Schweiz" auf S. 214, "dass nahezu alle Menschen tief greifendes psychisches Leiden an sich selbst oder in ihrer nächsten Umgebung schon erfahren haben". Diese Extrapolation von 277 50jährigen Zürcherinnen und 51jährigen Zürchern auf die ganze Schweiz scheint mir doch recht fragwürdig. Die 470 Baslerinnen und Basler, die Wacker befragt hat, machen die Sache nicht schlüssiger.
Die wissenschaftlich nur schwach untermauerte Aussage erscheint an vielen Orten, wenn's um die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen geht. Z.B. im BAG Bericht über die Europäische Ministerielle WHO-Konferenz zur Psychischen Gesundheit von 2005. Dort steht:
Nationale und internationale Studien zeigen, dass fast jede zweite Person im Verlauf ihres Lebens einmal – kürzer oder länger – an einer psychischen Krankheit leidet.

Sie taucht auf in "Psychische Gesundheit in der Schweiz" von 2007 unter "Fakten" auf Seite 10:
Ungefähr die Hälfte der Schweizer Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung (Ajdacic & Graf, 2003).

Sie kommt im Kapitel "Massnahmebereiche" in "Gesundheit im Kanton Zürich 2000 - 2006":
Jede zweite Person ist im Laufe ihres Lebens von psychischen Problemen betroffen, welche nach gegenwärtigen Diagnosekriterien das Ausmass einer psychischen Krankheit erreichen.

Sie ist 2007 auch Waffe im politischen Kampf, wenn NR Gutzwiller vom Bundesrat mehr Einsatz für die psychische Gsundheit der Bevölkerung verlangt:
Die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben an einem schweren psychischen Leiden zu erkranken, beträgt in der Schweiz nahe zu 50% und jedes Jahr erkranken 70'000 Menschen neu.

Und immer dient der obsan-Bericht "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie" als Referenz, der sich seinerseits in Sachen Prävalenz auf Angst und Wacker als Hauptzeugen beruft.

Kritik an den Prävalenz-Daten für die USA meldeten vor ein paar Jahren Horwitz und Wakefield an. Sie publizierten einen Artikel mit dem Titel
"the epidemic in mental illness: clinical fact or survey artifact?" Do half of all Americans suffer from mental disorders at some point in their lives? Or do surveys misdiagnose the distress that is a normal part of every life?
und halten darin unmissverständlich fest
Despite their rhetorical value, the high rates are a fiction; the studies establish no such thing. In fact, the extraordinarily high rates of untreated mental disorder reported by community studies are largely a product of survey methodologies that inherently overstate the number of people with a mental disorder. The inflated rates stem from standard questions about symptoms with no context provided that might distinguish the normal distress experienced in life from genuinely pathological conditions that indicate an underlying mental illness. Both get classified as signs of disorders. Moreover, because people experiencing normal reactions to stressful events are less likely than the truly disordered to seek medical attention, such questions are bound to inflate estimates of the rate of untreated disorders.

Was bleibt? Ist es reine Propaganda, zu sagen, Panikattacken und Angstzustände seien "verbreitete Störungen"? Propaganda, weil die Aussage sich auf eine fragwürdige Datenbasis stützt und lediglich psychopathologisierenden Techniken zur Stabilisierung der unsäglichen Verhältnisse in die Hände spielt? Seit die extrovertierte Forderung "macht kaputt, was euch kaputt macht!" (garantiert leicht deutbar als pathologisch!) etwas aus der Mode gekommen ist, abgelöst vom introvertierten Pillenschlucken (was kann man denn sonst tun?), liefern angeblich hohe Prävalenzen Argumente für den Ausbau von psychologischen / psychiatrischen Angeboten (und Forschungstätigkeiten). Wer wollte bedürftigen Individuen da davor sein?
Unlängst berichtete eine Berufskollegin von einem Tischgespräch, an dem die Beteiligten zum Schluss kamen, dass extrem vielen Leuten Burn-Out, Depressionen, Bipolare Störungen, Panikattacken etc. diagnostiziert würden. Meine Gegenfrage war, wieviele an dem Tisch Direktbetroffene waren oder wirklich persönlich und aus erster Hand entsprechende Geschichten kannten. Ich vermutete "urban legends" am Werk: Es kennt jeder jemanden, der jemanden kennt, der schon mal in stationärer psychiatrischer Behandlung war oder kurz davor. Sie meinte, niemand in der Runde sei direkt betroffen, aber alle kennten eine handvoll Betroffene. Ich blieb skeptisch und schlug vor an einem Samstagnachmittag in der Fussgängerzone mitten in der Stadt eine anonyme ad hoc Strassenumfrage durchzuführen. Einzige Auskunft, die's vom Publikum braucht: "Hat Ihnen in Ihrem Leben je eine entsprechend geschulte medizinische oder eine psychologische Fachperson eine psychische Krankheit diagnostiziert oder waren Sie schon mal in einer psychischen Verfassung, von der Sie glauben, sie wäre Ihnen wohl als psychische Krankheit diagnostiziert worden?" (Zugegeben, das ist nicht ganz identisch mit Prävalenz!) Meine Vermutung, wir kämen nicht über 3%, worst case 5%. Hätten die offiziellen Dokumente mit ihrer dünnen Datenbasis recht, müsste jede zweite Person mit "Ja!" antworten.