Samstag, 26. Dezember 2009

"Konsensplattform" zu wissenschaftlichen Forschungsprogrammen - Was ist davon zu halten?

Wie kommen wissenschaftliche Forschungsprogramme hierzulande zu ihren Schlussaussagen? Nehmen wir als Beispiel das NFP 50 über hormonaktive Substanzen. Davon erfahren wir auf der Website, dass dazu u.a. eine so genannte Konsensplattform tagte (ihr Schlussdokument) zum Thema "UV-Filter in Sonnenschutzmitteln". Ueber ihren Ansatz lesen wir bei der EAWAG:
Als Neuerung in einem Nationalen Forschungsprogramm wurde das NFP50 mit einer Konsensplattform abgeschlossen. Auf der Basis des neuen Wissens erarbeiteten Forscherinnen und Forscher dabei gemeinsam mit Vertretern von Behörden und Industrie praxis­bezogene Empfehlungen zu den hormonaktiven Stoffen. Alle Beteiligten sollten zu den Resultaten stehen können, das übliche «Ja, aber» möglichst vermieden werden.
Ueber das Vorgehen steht im Schlussdokument zu den UV-Filtern:
Die Methodik der Konsensplattformen wurde durch den Umsetzungsbeauftragten des Nationalen Forschungsprogramms ‚Hormonaktive Stoffe’, Dr. Marcel Trachsel, in Zusammenarbeit mit dem Beratungsunternehmen int/ext Communications AG, Basel, entwickelt. Als Basis dienten die Vorgaben der Leitungsgruppe.
Bei der Konsensplattform handelt es sich um einen strukturierten, konstruktiven Dialog von Industrie, Behörden und Wissenschaft mit dem Ziel, ein allgemein akzeptiertes Übereinkommen zu finden über die Wirkung hormonaktiver Stoffe auf Mensch, Tier und Umwelt sowie über Massnahmen, die zur Minimierung der negativen Wirkung beitragen. Die Methodik beruht auf einer Abfolge von Sitzungen und individueller Reflektion zu deren Vorbereitung.

Gewisse Voraussetzungen sind notwendig, um eine Konsensplattform erfolgreich abzuschliessen:
⋅ Das zu behandelnde Thema (Issue) ist möglichst einzugrenzen.
⋅ Die Mitglieder sind bereit, im Rahmen des Prozesses zu kooperieren, abweichende Interessen und Positionen zu akzeptieren und gemeinsam an einem Übereinkommen zu arbeiten.
⋅ Die Sitzungen werden professionell moderiert.
⋅ Alle Vorgänge und Zwischenergebnisse bleiben bis zum Abschluss der Konsensplattform vertraulich. Nach Abschluss der Arbeiten werden nur die verabschiedeten Resultate kommuniziert.

Schritt 1: Auf Grund ihrer Kenntnislage definieren die Mitglieder der Konsensplattform individuell ihren Standpunkt zu Wirkung und Massnahmen, resp. den Standpunkt der Organisation, die sie vertreten.
Schritt 2: An einer ersten gemeinsamen Sitzung vertreten die Mitglieder der Konsensplattform ihren Standpunkt zu Wirkung und Massnahmen und gestatten ein Hinterfragen dieses Standpunktes durch die anderen Mitglieder der Konsensplattform (Hearing). Aus dieser Sitzung resultiert je eine Sammlung an wirkungs- und massnahmenbezogenen Aussagen/Empfehlungen. Diese werden den Mitgliedern der Konsensplattform zur Verfügung gestellt.
Schritt 3: Individuell entscheiden die Mitglieder der Konsensplattform in diesem Schritt über die Akzeptanz, bedingte Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz jeder wirkungsbezogenen Aussage. Die bedingte Akzeptanz ist zwingend zu begründen.
Die Ergebnisse werden zentral gesammelt und eingeteilt in folgende Kategorien:
Kategorie w1: allgemein akzeptiert >>> direkte Aufnahme in die finale Sammlung akzeptierter Aussagen
Kategorie w2: akzeptiert und bedingt akzeptiert, nicht mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> Besprechung an der gemeinsamen Sitzung
Kategorie w3: mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> wird nicht weiter verfolgt
Schritt 4: An der gemeinsamen Sitzung werden die wirkungsbezogenen Aussagen der Kategorie w2 mit dem Ziel weiter besprochen, eine Formulierung zu finden, die für alle Mitglieder der Konsensplattform akzeptabel ist. Das Resultat dieser Sitzung ergibt zusammen mit den Aussagen der Kategorie w1 die finale Sammlung akzeptierter wirkungsbezogener Aussagen. Diese werden in eine logische Reihenfolge gebracht und von der Konsensplattform verabschiedet.
Schritt 5: Individuell entscheiden die Mitglieder der Konsensplattform in diesem Schritt über die Akzeptanz, bedingte Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz jeder massnahmenbezogenen Aussage/Empfehlung. Die bedingte Akzeptanz ist zwingend zu begründen. Die Ergebnisse werden zentral gesammelt und eingeteilt in folgende Kategorien:
Kategorie m1: allgemein akzeptiert >>> direkte Aufnahme in die finale Sammlung akzeptierter Aussagen/Empfehlungen
Kategorie m2: akzeptiert und bedingt akzeptiert, nicht mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> Besprechung an der gemeinsamen Sitzung
Kategorie m3: mehr als eine Nicht-Akzeptanz >>> wird nicht weiter verfolgt
Schritt 6: An der gemeinsamen Sitzung werden die massnahmenbezogenen Aussagen/Emfpehlungen der Kategorie m2 weiter besprochen mit dem Ziel, eine Formulierung zu finden, die von allen Mitgliedern der Konsensplattform akzeptiert werden kann. Das Resultat dieser Sitzung ergibt zusammen mit den Aussagen der Kategorie m1 die finale Sammlung akzeptierter massnahmenbezogener Aussagen/Empfehlungen. Diese werden in eine logische Reihenfolge gebracht und von der Konsensplattform verabschiedet.
Schritt 7: Die verabschiedeten Sammlungen wirkungs- und massnahmenbezogener Aussagen werden in einem Schlussdokument zusammengefasst und stehen zur Kommunikation mit weiteren Anspruchgruppen zur Verfügung.

Halten wir kurz fest: Ein Gremium hat in einer Art demokratischem Prozess den Minimalkonsens eruiert bezüglich Wirkung und notwendiger Massnahmen betreffend hormonaktiver UV-Filter in Sonnenschutzmitteln! Damit wird die Zusammensetzung dieses Gremiums zum wichtigen Faktor, der das Endergebnis bestimmt. Darüber erfahren wir:
Herstellende Industrie
Uli Osterwalder, Dr. Helmut Elbert, Ciba Spezialitätenchemie, Basel
Dr. Gabriele Allard, Dr. Jochen Bausch, Michael Weller, DSM Nutritional Products, Basel

Verarbeitende Industrie
Dr. Bernhard Irrgang, Mibelle, Buchs (AG)
Dr. Hans-Jürg Furrer, Louis Widmer, Schlieren
Dr. Marcel Langenauer, Spirig, Egerkingen

Behörden
Prof. Dr. Georg Karlaganis, Dr. Christoph Studer, Bundesamt für Umwelt, Bern
Dr. Michel Donat, Dr. Judith Amberg-Müller, Bundesamt für Gesundheit, Bern

Dermatologie
Prof. Dr. Lasse Braathen, Universität Bern

Nationales Forschungsprogramm ‚Hormonaktive Stoffe’
PD Dr. Margret Schlumpf, Prof. Dr. Walter Lichtensteiger, GreenTox, Universität Zürich
PD Dr. Karl Fent, Fachhochschule Nordwestschweiz

Moderation und Aufbereitung
Prof. Dr. Felix R. Althaus, Präsident Leitungsgruppe NFP ‚Hormonaktive Stoffe’, Universität Zürich
Dr. Marcel Trachsel, Umsetzungsbeauftragter NFP ‚Hormonaktive Stoffe, int/ext Communications AG, Basel

Das heisst: In dem 16 köpfigen Gremium ("Moderation und Aufbereitung" nicht eingerechnet), das über das publizierte Schlussdokument des Teilprojektes zu UV-Filtern in Sonnenschutzmitteln innerhalb des Forschungsprogramms NFP50 befand, sassen 8 IndustrievertreterInnen, 4 Behördenmitglieder, 1 Dermatologe und genau 3 Forschende des eigentlichen Forschungsprogramms, um dessen Schluss-Statement es geht. Der Umsetzungsbeauftragte Marcel Trachsel arbeitete übrigens jahrelang bei und für Sandoz als Mediensprecher.
Erinnern wir uns zudem an das Verfahren, wie die Aussagen gefiltert werden: Wenn mehr als 1 Vertreter eine Aussage nicht akzeptiert, wird sie nicht weiter verfolgt (siehe weiter oben: "Kategorie m3" und "Kategorie w3"). Also: Wenn zwei Nein! sagen, und 14 Ja!, gewinnt das Nein! Was kam bei diesem Vorgehen bei dieser Zusammensetzung heraus?
Wirkungsbezogene Aussagen
Aus einer Gesamtheit von 51 wirkungsbezogenen Aussagen wurden folgende 19 Aussagen von der Konsensplattform in der vorliegenden Form akzeptiert und verabschiedet (...)

Also zwei Drittel der wirkungsbezogenen Aussagen (32 von 51), die wohl vor allem von den Forschenden formuliert wurden, fielen vom Tisch, weil sie mindestens 2 Industrie- oder Behördenvertretern nicht passten.
Massnahmenbezogene Aussagen/Empfehlungen
Aus der Gesamtheit von 18 massnahmenbezogenen Aussagen/Empfehlungen wurden alle 18 Aussagen/Empfehlungen von der Konsensplattform in der vorliegenden Form akzeptiert und verabschiedet (...)

100% der massnahmenbezogenen Aussagen kamen durch. Weil sie von Beginn weg so allgemein gehalten sind, dass niemand dagegen sein konnte? Vielleicht. Sie lassen sich zusammenfassen als: mehr Forschung, mehr Prüfung und Appelle an die Selbstverantwortung der Industrie!

Es bleibt ein schales Gefühl zurück bei der ganzen Sache. Vor allem: Wie lauteten die 32 wirkungsbezogenen Aussagen, die es nicht ins Schlussdokument schafften auf diesem Weg? Diese basierten wohl jede einzelne auf konkreten Forschungsergebnissen des NFP50, waren also nicht irgendwelche Phantasiegebilde. Solide wissenschaftliche Ergebnisse, die unterm Tisch landeten, weil sie den Industrie- oder Behördenvertretern nicht passten und sie ihr Veto einlegten gegen deren Publikation im Schlussdokument. Und über diese 32 "Verschwundenen" breitet sich bis in alle Ewigkeit der Mantel der Omertà (siehe oben, bei "Voraussetzungen")! "Konsensplattform" klingt so gesehen sehr euphemistisch!

P.S. Den Schlussberichten der anderen beiden Konsensplattformen, jenen zu bromierten Flammschutzmitteln und zu hormonaktiven Stoffen im Wasser, ist zu entnehmen, das dort gleich vorgegangen wurde und die personelle Zusammensetzung ähnlich "ausgewogen" war. Die Forschenden waren immer in der Minderheit. Leider verraten jene zwei Berichte allerdings nicht, wieviele Aussagen per Veto abgeschossen wurden.

P.P.S. Natürlich steht auf den mageren 9 (!) Seiten des "öffentlichen Schlussberichts" des CHF 15'000'000.- teuren NFP50 noch mehr zu den Wirkungen von hormonaktiven Substanzen, als in den Papieren der Konsensplattformen. Aber von den 9 Seiten Schlussbericht füllt immerhin auch wieder die 4 letzten Seiten das wie oben beschrieben zustande gekommene Material der Konsensplattformen. Wer aus den Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur WBK oder den Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit SGK schaut sich, nach dem Durchblättern dieses Schlussberichtes (mit soviel "Konsens" drin auf den letzten Seiten), die NFP50-Sondernummer von Chimia noch an mit den Fach-Artikeln über mögliche Zusammenhänge von hormonaktiven Substanzen und Brustkrebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Embryonalentwicklung, Hodenhochstand etc. (oder gar andere Fachliteratur)?

P.P.P.S. Warum sassen in den Gremien, die die "Konsensplattformen" erarbeiteten, keine Vertreter der Oeffentlichkeit (Typus Konsumentenschutz, Umweltschutz, Gewerkschaften etc.)? Warum 8 Industrievertreter, aber 0 Anwälte von Ihnen und mir? BAFU und BAG füllen diese Lücke nicht.

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