Mittwoch, 27. Mai 2009

Wie unabhängig ist das neue Schweizer Zentrum für Humantoxikologie?

Halten wir kurz fest im Sinne eines Notizzettels: Seit gestern ist bekannt, dass Martin F. Wilks der erste Direktor des neuen Zentrums für angewandte Humatoxikologie der Schweiz ist, welches seine Existenz u.a. der Motion von Maya Graf aus dem Jahre 2002 verdankt, wie auch das Oekotoxikologiezentrum der Eawag. Er arbeitete bisher viele Jahre bei Syngenta. Eines seiner Dossiers war das weltweit bis auf den heutigen Tag äusserst umstrittene Syngenta-Herbizid Paraquat.
In der Leistungsvereinbarung zwischen "uns" (resp. unseren Stellvertretern aus BAG, Swissmedic, SBF, BLW und SECO) und dem Zentrum, dem Wilks vorsteht, ist festgehalten:
Das Zentrum erbringt die folgenden im Zusatzprotokoll präzisierten Leistungen:
a. Leistungen im Bereich der regulatorischen Toxikologie:
- Erarbeitung unabhängiger wissenschaftlicher Grundlagen für Risk-Assessment- und Risk-Management-Entscheide der Behörden ausserhalb des routinemässigen Rahmens;
- Dokumentation und Diffusion neuer Erkenntnisse und Stossrichtungen in der angewandten Humantoxikologie und Überprüfung der eventuellen Notwendigkeit, sie in gesetzliche Regelungen einzubeziehen;
b. Angewandte Forschung in Teilbereichen der Humantoxikologie mit Fokus auf toxikologisch relevante Fragestellungen des Gesundheitsschutzes;
c. Vorbereitung und Durchführung von post-Bachelor und post-Master Ausbildungsgängen;
d. Akquisition und Durchführung von finanzierten toxikologischen Dienstleistungen für Dritte.
Oberstes Organ des Zentrums ist das "strategische Leitungsorgan", dieses
hat die Gesamtaufsicht über das Zentrum und ist namentlich für die Strategieentwicklung und Prioritätensetzung in den Bereichen regulatorische Toxikologie, Forschung in angewandter Toxikologie, Ausbildung und Dienstleistung verantwortlich.
In dem strategischen Leitungsorgan sitzen
die Taskforce Bund „Humantoxikologie“, die Schweizerische Gesellschaft für Toxikologie, die Universitäten Basel, Genf und Lausanne sowie die SGCI Chemie Pharma Schweiz.
Das Zentrum hat 4 Kernprojekte (Jahresbudget 2010, Bundesbeiträge + Unianteile):
  • discovery of toxico-biomarker panels using a “system approach” (1'680'000.-)
  • Endocrine disruptors and male infertility (170'000.-)
  • Mechanisms and in vitro prediction of non-allergic idiosyncratic toxicity (800'000.-)
  • Preclinical and clinical assessment of allergic toxicity of drugs (250'000.-)
  • Zu "Mechanisms and in vitro..." steht im Beschrieb:
    Idiosyncratic toxicity of drugs is rare and is not related to their pharmacological action. This type of toxicity can therefore so far not be predicted and is not detected by the usual screening methods dur-ing preclinical and clinical drug development. Although being rare, the consequences of this type of toxicity can be very severe, both for the patients affected and for the pharmaceutical industry. Recent examples include benzbromarone, an uricosuric agent associated with hepatic toxicity, troglitazone, an insulin-sensitizer associated with hepatotoxicity, nefazadon, an antidepressent associated with hepatotoxicity, cerivastatin, a serum cholesterol-lowering drug associated with skeletal muscle toxicity and rofecoxib, an analgesic and anti-inflammatory drug associated with cardiovascular toxicity. All of these drugs were associated with severe adverse effects in patients, eventually resulting in a fatal outcome. The pharmaceutical companies producing these drugs had therefore to withdraw them from the market, with serious financial consequences for the companies with reputation-damaging effects for the whole pharmaceutical industry. The ability to predict such adverse effects would therefore rep-resent a large step towards safer medicines.
    Hier geht's also um Forschung über die schwer vorhersehbare Toxizität gewisser Stoffe, die die Pharmaindustrie viel Geld und ihren guten Ruf kosten kann. Zum Projekt "Preclinical and ..." heisst's im Beschrieb, das Ziel sei:
    To build a platform for the in vitro assessment of drug candidates regarding their potential to stimulate cells of the immune system. The platform will be constantly advanced in collaboration with the groups within the toxicology network and the pharmaceutical industry.
    Da geht's also darum, Methoden herauszutüfteln, mit denen sich allergische Reaktionen auf Medikamente in der Pipeline der Pharmaindustrie vorhersehen lassen. Die beiden pharmanahen Projekte zusammen haben ein Budget von 1'050'000.-.
    Die Forschung über die Gründe, warum die männliche Fruchtbarkeit laufend abnimmt und was das mit hormonaktiven Substanzen in der Umwelt zu tun hat (Projekt "Endocrine disruptors and male infertility "), bekommt andererseits weniger als einen Fünftel davon. Was das Zentrum in dem Bereich vorhat, klingt im Beschrieb in der Leistungsvereinbarung wenig ambitioniert und beschränkt sich auf Tierversuche mit Ratten und Mäusen. Jedenfalls schliesst es kaum an den Erkenntnisstand an, den das erst unlängst beendete NFP50 in exakt dem Gebiet erreichte.
    Was betrifft mehr Menschen? Die seltenen, exotischen allergischen Reaktionen auf spezialisierte Pharmaprodukte oder die sinkende Zeugungsfähigkeit vieler Männer? Warum startet das neue Zentrum für angewandte Humantoxikologie mit dem Focus, den es hat? Warum ist bei pharmarelevanten Projekten so detailiert und ausführlich beschrieben, wo man hin will und wirkt das "Endocrine disruptor" Projekt - subjektiv - wie eine leidige Pflichtübung? Was hat der Focus zu tun mit der Herkunft des Direktors und dem Einsitz der Chemielobby im leitenden Organ des Zentrums? Fragen, die ich gerne von unabhängiger Seite beantwortet haben möchte. Mal schauen, ob ich jemanden finde, der tatsächlich als unabhängig gelten kann... Ich würde jedenfalls nicht als einzige Auskunftsperson den Zentrumsleiter Martin Wilks selber danach fragen, wie's die NZZ in geradezu rührend naiver Weise getan hat:
    Wilks bringt langjährige Erfahrung in der Industrie und in der akademischen Toxikologie mit. Das dürfte von Vorteil sein, wie er auf Anfrage sagt. Denn in seiner Funktion als Koordinator des neuen Zentrums müsse er die unterschiedlichsten Anliegen und Interessen von Behörden, Universität, Industrie und Bevölkerung unter einen Hut bringen. Wilks lässt aber keinen Zweifel daran offen, dass er für eine unabhängige toxikologische Forschung einstehen werde.
    Bei mir hingegen lässt dies keinen Zweifel daran offen, dass der Journalismus vor die Hunde geht, wenn bereits die NZZ solche Unbedarftheiten durchwinkt!

    UPDATE 30.5.: Inzwischen eingeholt: die Haltung der Behrördenvertreterin im Leitungsgremium; die Skepsis des Vertreters der Erklärung von Bern.

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