Dienstag, 19. Mai 2009

Der Ozean im Gebirge

(Anmoderation) Zwischen Altdorf und Airolo lagen einst tausend Kilometer Ozean. "Einst" heisst in diesem Fall: Vor 150 Millionen Jahren. Zu dieser Zeit war Airolo in Palermo. Das klingt zwar beim ersten Anhören einigermassen unglaubwürdig. Aber die Erdwissenschaft, die Geologie, hat ihre guten Gründe für diese Behauptung. Wie die Geologie heute argumentiert und wie die Wissenschaft sich zu dieser Erkenntnis vorarbeitete, das erzählt das vor kurzem erschienene Sachbuch "Der Ozean im Gebirge".

(Beitrag) Jeder Berg und jeder Stein erzählt eine Geschichte. Was für heutige Ohren banal klingt, ging westlichen Naturforschern erst vor rund 400 Jahren so langsam, langsam auf. Und erst vor 200 Jahren formulierte der Schotte James Hutton erstmals die grosse Erzählung des Kreislaufs von der Abtragung der Gesteine, ihrer Ablagerung, der Verfestigung und der Umwandlung - und dann wieder Abtragung der Gesteine.

Die beginnende Industriealisierung anfangs des 19. Jahrhunderts trug das ihre dazu bei, dass die Wissenschaft der Erde entstand. Bäche und Flüsse wollten gezähmt sein. Rohstoffe mussten gefunden werden. Die Gesteine, ihre Zusammensetzung und ihre Verteilung in der Landschaft wurden zum Objekt der wissenschaftlichen Neugierde. Die Frage, warum die Berge da und so sind, wo und wie sie sind, wollte beantwortet sein.

Mit der wachsenden Neugierde und der intensiveren Erforschung, nahm auch der Erkenntnisstand zu. Und die Forscher entdeckten dabei ganz merkwürdige Dinge: Der Schweizer Arnold Escher von der Linth machte zum Beispiel 1841 die irritierende Feststellung, dass an verschiedenen Orten in den Alpen ältere Gesteine UEBER jüngeren liegen. Also: Unten: junge, oben: alte. Wie konnte das sein? Eigentlich galt das Dogma: unten liegt das Alte, und oben das Junge. Escher von der Linth fand, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Und erklärte die chronologische Umkehrung, markant zu sehen in den Glarner Alpen, mit ziemlich artistischen Verrenkungen, die die Gesteinsschichten an ihrem heutigen Fundort hinter sich hätten.

Die dynamische Sichtweise, dass die älteren Schichten bewegt worden sind und schliesslich so, nach viele Kilometer langen Überschiebungen, über den jüngeren Schichten zu liegen kamen, diese Sichtweise war Escher von der Linth verschlossen. Noch sein Schüler, der für die Geologie der Alpen wichtige Albert Heim, verteidigte die Ansichten seines Lehrers Ende des 19. Jahrhunderts. 20 Jahre lang argumentierte Heim gegen die Thesen vor allem des französischen Geologen Marcel Bertrand. Erst 1902 anerkannte Heim, dass das, was heute in der Alpgengeologie "Decken" heisst, die Realität wohl am adäquatesten beschreibt. Seither, seit Anfang 20stes Jahrhundert ist etabliert, dass die Alpen entstanden sind unter anderem durch den Transport riesiger Gesteinspakete über weite Strecken. Und dass diese Decken dabei einander gegenseitig überfuhren und überlagerten.

Aber es fehlte noch ein wichtiger Puzzlestein in der Erklärung: Die Antwort auf die Frage, warum die Gesteinspakete auf Reisen gingen. Die übergeordnete Theorie von der Bewegung der Kontinente, erstmals formuliert von Alfred Wegener im Herbst 1911, die fehlte noch. Und es sollte bis in die zweite Hälfte des 20sten Jahrhunderts dauern, bis die Erdwissenschaft die Fakten alle beienander hatte, um zu erkennen, dass die Oberfläche der Erde tatsächlich massgeblich geprägt ist von beweglichen, zerbrechenden, kollidierenden und aneinander vorbei driftenden Kontinenten. Und erst damit war möglich, die moderne Geschichte auch der Alpen zu schreiben, so wie sie im Buch “Der Ozean im Gebirge” jetzt vorliegt. Verfasst von den beiden Geologen Helmut Weissert und Iwan Stössel. Auf 178 reich illustrierten Seiten stellen sie einerseits ganz kurz die Geschichte ihres Faches dar. Und sie erzählen, was heute, 2009, Stand des Wissens über die Alpen ist.

Ihr Buch richtet sich an ein naturwissenschaftlich interessiertes, mit Vorteil sogar entsprechend vorgebildetes Publikum. Denn die Autoren verwenden erdwissenschaftliche Fachbegriffe, ohne sie bis in alle Verästelungen zu erklären. Wer sich davon aber nicht abschrecken last, erhält in nicht zu unterbietender Kürze auf nachvollziehbare Weise die zentralen Fakten dargestellt zur geologischen Geschichte der vergangenen 250 Millionen Jahre jenes Gebietes, das heute weit herum bekannt ist als “Schweiz”. Und, übrigens, die Lektüre klärt auch, was mit den 1000 Kilometern Ozean zwischen Altdorf und Airolo passiert ist...

Stimmt, ich hatte es vor kurzem schon mal davon! Leicht gekürzt ging der Text am 22.5. über den Sender in DRS2aktuell.

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