Dienstag, 9. November 2010

Wie häufig sind Depressionen? Und wem nützt es, wenn die Zahlen steigen?

(Ergänzung am 4.1.2011: Im NZZ Folio 01/11 schreibt Martin Lindner über "Die Epidemie, die keine ist": "Heutzutage kennt jeder jemanden, der depressiv ist, phobisch oder bipolar. Oder er ist es selbst. Doch der Eindruck, dass immer mehr Leute psychisch krank werden, täuscht.")

Es ist Herbst und das Thema Depression hat in den Medien wieder Hochkonjunktur. Diesmal tritt das BAG selber den Depro-Hype los und die SDA ist seine Trompete. Sie schreibt im Original:
Bern · Wegen Depressionen zum Hausarzt - Erste Statistik liegt vor
Immer mehr Menschen suchen wegen Depressionen ärztliche Hilfe. Pro 1000 Hausarztbesuche erfolgen fast 13 wegen der psychischen Krankheit, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mitteilte. Die Zahlen stammen von der ersten Sentinella-Statistik zu Depressionen aus dem Jahr 2008.
Prompt landet das Communiqué, stimmig aufgemacht und reisserisch übertitelt, auf der Frontpage bei den Newsnetz-Sites:

Schon im Lead von SDA - und logischerweise auch Newsnetz - schreit einem der Schwachfug ins Gesicht: Wie in aller Welt, soll aus einer einzigen Statistik eines Jahres ein Trend abzulesen sein? Wie kommt die SDA zur unhaltbaren Aussage, "immer mehr Menschen" suchten wegen Depressionen ärztliche Hilfe auf? Vielleicht kommt ja noch etwas, aber bis jetzt findet sich beim BAG keine Medienmitteilung, die als Grundlage für die SDA-Meldung hätte dienen können (und wo ev. Hintergründe dazu zu finden wären - Meine Güte, jetzt hoff ich schon darauf, dass die zugrundeliegenden Communiqués jene Hintergründe liefern, die ihre journalistische Aufbereitung versaut hat; weit ist's gekommen!).
Die Aussage im Lead der SDA, dies sei die "erste Sentinella-Statistik zu Depressionen" ist zudem kreuzfalsch. Das Publikationenverzeichnis von Sentinella schreibt schwarz auf weiss auf Seite 13: "T. Lehmann, Arbeitsgruppe Sentinella; Depression; Jahresbericht 1988/89".
Leider ist dieser Jahresbericht nicht elektronisch zugänglich. Aus dem Vergleich von dessen Zahlen mit denen von 2008 liesse sich vielleicht ein Trend konstruieren. Auf diese 20 Jahre alten Daten nimmt aber niemand Bezug. Weder das BAG in seinem Wochenbulletin (anders als im Schlussbericht zu Sentinella) noch die SDA etc.
Zwar deutet der letzte Satz der Meldung an, wie der Trend konstruiert wurde:
Das BAG rechnete diese Zahlen mittels Daten des Krankenkassen-Dachverbandes Santésuisse und dem Bundesamt für Statistik hoch.
Aber über die Methoden schweigt sich die Agentur aus. Eher anekdotisch interessant scheint mir, dass die CHF 10'000.- teure wissenschaftliche Auswertung der Sentinella-Zahlen von 2008 gemäss Projektdatenbank eigentlich bereits Ende November 2009 abgeschlossen wurde. April bis Juni 2010 musste offenbar sozialwissenschaftlich für CHF 16'920.- nochmals dran rumgeschraubt werden. Und bis zum jetzt publizierten, ominösen Communiqué in der Angelegenheit mussten weitere 4 Monate ins Land streichen... Und das alles endet schliesslich verkürzt, unvollständig und irreführend im Newsnetz. Schade um die viele Arbeit!
Beim Gerede von wachsenden Zahlen von Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen scheint mir übrigens immer grösste Skepsis angebracht! Schon die Zahlen des Kantons Basel-Stadt und des BAGs unterscheiden sich um einen Faktor 4:
BS: Jeder fünfte Erwachsene leidet mindestens einmal im Leben unter einer Depression.
BAG: Man nimmt an, dass 5-7% der Bevölkerung an Depressionen erkranken.
Das Gesundheitsobservatorium bietet zwar eine lange Publikationenliste dazu. Aber, wer die Datenbasis für diese Aussagen zu rekonstruieren versucht, sieht, dass ein Bericht immer den vorhergehenden zitiert, der einen Dritten zitiert (soweit normales wissenschaftliches Vorgehen...), am Ende aber nicht viel mehr als Grundlage bleibt für z.B. die viel herumgereichte, maximalistische Aussage, dass jede zweite Person in der Schweiz einmal im Leben an einer psychischen Störung erkranke, als zwei relativ dünne Studien: eine aus Basel (Wacker 1995, vergriffen) & die viel zitierte sog. "Zürich"-Studie. Letztere sagt ehrlicherweise allerdings über sich selber:
The data are based on a relatively small sample; a single age cohort, and the study was conducted in Zurich, Switzerland. These study features may diminish the generalisability of the findings.
Depression ist eine zu ernste Sache, um sie der Journaille zu überlassen!

PS: UPDATE Dienstag, 12:30. Inzwischen hat mir das BAG die Quelle für die SDA-Geschichte genannt: Sein wöchentliches Bulletin Nr. 45/10 (, das auch den Link auf den nun endlich publizierten Schlussbericht der Sentinella-Daten in Sachen Depression enthält, welcher der Hintergrund zum Artikel im BAG Bulletin ist und worin auf S. 18 über die Methode, wie die Sentinella-Daten auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden, steht:
Eine exakte Beschreibung der Methode dieser Hochrechnung ist bei den Sentinella-Verantwortlichen des BAG erhältlich.
Wie bitte? Warum wird diese, für die Abschätzung der Relevanz und Wissenschaftlichkeit der daraus abgeleiteten Zahlen zentrale Methode nicht direkt im Schlussbericht offengelegt? Warum diese unnötige Hürde? Ob der Bericht dadurch 2 Seiten länger wird oder nicht, kann ja wohl nicht das Problem gewesen sein. Aber dass der Zugang zur Methode, die zu gesundheitspolitisch relevanten Zahlen führt, vernebelt wird, ist ein Problem!). Im BAG-Bulletin auf S. 1075 steht auch gleich wieder im zweiten Satz:
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der gestellten Diagnosen in der Schweiz zugenommen.
Ein Beleg für diese folgenreiche Aussage wird nicht referenziert. Die Quelle ist also auch nach der Lektüre des BAG Bulletins unbekannt. Aber mit diesem Satz ist wenigstens erklärbar, wie die SDA zu ihrem ersten - unbelegten! - Satz im Lead kommt:
Immer mehr Menschen suchen wegen Depressionen ärztliche Hilfe.
Die einzige kontinuierliche Quelle, die bisher eventuell solche Aussagen zuliesse, ist der so genannte "Schweizerische Diagnosen Index (SDI)". Das ist allerdings ein Marketinginstrument, vertrieben von der kommerziellen Pharmamarketing-Beratungsbude IMS. IMS macht regelmässig Umfragen unter AerztInnen, was sie warum verschreiben. Auch im psychiatrischen Bereich. Und dort wird er von den Gesundheitsbehörden auch konsultiert und zitiert. Um an diesen Unterdatensatz des SDI ranzukommen, zahlt alleine das Bundesamt für Statistik 10'000.- jährlich seit 2008, steht in der Forschungsdatenbank Aramis. Aber warum steht dort nicht, wer die Daten liefert, sondern wird nur unbestimmt von einem "Auftragnehmer" gesprochen?
Der Auftragnehmer stellt dem Obsan ein spezifiziertes Tabellenset zu Diagnosen, Arzt-Patientenkontakten und Verschreibungen aus der Datenbank SDI zur Verfügung. Es handelt sich dabei um Daten der Berichtsjahre 2000-2010 und des Diagnosenkapitels F gemäss ICD-10 (Psychische Erkrankungen).
Es wäre wohl langsam an der Zeit, dass die Gesundheitsbehörden eine andere Quelle für ihre Behauptung der wachsenden Zahl Depressiver verwenden, als die Angaben des Pharmamarketing! Alles, was es bräuchte, wäre mit Sentinella ebenso kontinuierlich das Thema Depression zu beobachten, wie es für Grippe, Masern, Mumps und Röteln seit über 20 Jahren selbstverständlich ist!

Wäre es nicht rationaler, ein paar Jahre lang diese Zahlen zu sammeln, sie dann auszuwerten, und erst dann zu entscheiden, ob das Land tatsächlich ein "Bündnis gegen Depression" verschrieben bekommt? Statt die PR-Mühlen schon anzuwerfen, bevor wirklich harte Daten auf dem Tisch liegen???

P.P.S. Da schau an! Newsnetz hat die Headline verändert (Stand 14:00)! Jetzt lautet sie:
Romands besonders anfällig auf Depressionen
Das ist zwar ebenso ins Blaue behauptet wie die alte Schlagzeile, wie im etwas ausführlicheren Artikel zum selben Thema, ebenfalls bei Newsnetz, von Iwan Städler, der die SDA-Meldung ausgebaut hat, herauszufinden ist, wo steht:
Während im Erhebungsjahr 2008 in Graubünden und im Tessin auf 1000 Konsultationen 2,5 Depressionsmeldungen kamen, waren es in der Westschweiz fast zehnmal mehr – nämlich 21,1. Damit liegt die Romandie mit Abstand an der Spitze aller Regionen. (...) Heisst dies nun, dass die Westschweizer deutlich unglücklicher sind als die Deutschschweizer? Oder erkennen die dortigen Ärzte einfach schneller eine Depression? Beides sei möglich, sagt Regula Ricka vom BAG.
aber was ficht einen rechten Titeldichter die sachliche Korrektheit an?

Sonntag, 7. November 2010

European Thermal Paper Association beantwortet Nachfragen

Die ETPA beantwortete vergangene Woche meine Nachfragen mit diesem Schreiben:
Sehr geehrter Herr Tschudin,

zunächst einmal möchten wir feststellen, dass wir weder Hersteller von Bisphenol A sind, noch haben wir für diesen Stoff eigene Untersuchungen durchführen lassen. Wir müssen uns als Nutzer der Chemikalie auf wissenschaftliche Testergebnisse verlassen, die von den unterschiedlichsten Institutionen veranlasst bzw. durchführt wurden. So erklärt es sich, dass wir die der für uns zuständigen Gesundheitsbehörde BfR (Bundesministerium für Risikobewertung) bzw. der europäischen Behörde EFSA gegebenen Erklärungen über den Stoff Bisphenol A selbstverständlich nutzen, um die Sicherheit eines Bisphenol A enthaltenden Thermopapiers zu demonstrieren.

Hinsichtlich des Datums „Complete Risk Assessment in our Document (Feb 2010)“ haben Sie Recht, wenn Sie anmerken, dass die maßgeblichen Untersuchungen in 2003 bzw. 2008 durchgeführt wurden. Das Dokument wurde aber erst im Februar 2010 in dieser Form veröffentlicht. Wir haben uns jetzt auf das Erscheinungsdatum bezogen. Wir denken, dass dies in der Sache nun wirklich keinen Unterschied macht.

Zum Hintergrund der Bewertung im European Risk Assessment wissen wir, dass seinerzeit schon Migrationsuntersuchungen durchgeführt wurden, die vernachlässigbare Mengen im Übergang von Bisphenol A aus Thermopapieren festgestellt haben. Demzufolge kam seinerzeit schon die britische Umweltbehörde zu dem Schluß, dass hier keinerlei Gefahr im Verzug ist.

Unser Bezug auf die „Universität Zürich“ mag möglicherweise etwas irreführend sein, weil wir davon ausgegangen sind, dass die Uni selbst die Untersuchungen durchgeführt hat. Es handelt sich aber offenbar um den Kommentar zu Untersuchungen der Universität Lyon (“Cutaneous Penetration of Bisphenol A in Pig Skin“ Kaddar et al.). Auch dieser vielleicht nicht hundertprozentige Bezug zu der eigentlichen Quelle ändert den Sachverhalt nicht. Bitte bedenken Sie, dass unser Statement für einen Leserkreis verfasst ist, der nicht unbedingt über die hier notwendige Fachkenntnis verfügt, eine wissenschaftliche Abhandlung zu lesen und zu verstehen. Wir denken, dass es legitim ist, sich hier dem leichter verständlichen Kommentar von Wissenschaftlern – in dem Fall der Universität Zürich – zu bedienen.

Hinsichtlich des Kommentars des Umweltministers Norbert Röttgen in der Sendung „Markt“ des westdeutschen Fernsehens sind wir der Überzeugung, dass Norbert Röttgen genau das getan hat, was man tun muß, um einen seriösen, fundierten Kommentar zur Situation Bisphenol A abzugeben: Er hat sich auf die Fakten bezogen und hat sich nicht an den Spekulationen beteiligt, die leider von einem Mitarbeiter seines Amtes in der Vergangenheit schon mehrfach geäußert wurden.

Abschließend können wir Ihnen versichern, dass die europäische Themopapierindustrie, die bereits in 1995 gegenüber dem deutschen Umweltbundesamt eine Selbstverpflichtung hinsichtlich des Einsatzes von Chemikalien eingegangen ist, keine Stoffe einsetzt oder einsetzen würde, bei denen ein gesundheitsschädlicher Effekt nachgewiesen wäre.

ETPA - European Thermal Paper Association
Meine Fragezeichen bleiben.

Mittwoch, 3. November 2010

Princess Leia is calling! Holographisches Teleconferencing im Prototyp


Holographische Telepräsenz ist machbar, belegt dieser Prototyp. Das heisst z.B., das an Ort X in nahezu Echtzeit aufgenommene Hologramm kann per Datenleitung an Ort Y transportiert und dort in nahezu Echtzeit als Hologramm dargestellt werden. Das zeigt das Video: holographische 3D-Videotelefonie scheint erreichbar. Das Team hinter dem Artikel "Holographic three-dimensional telepresence using large-area photorefractive polymer" (P.-A. Blanche, A. Bablumian, R. Voorakaranam, C. Christenson, W. Lin, T. Gu, D. Flores, P. Wang, W.-Y. Hsieh, M. Kathaperumal, B. Rachwal, O. Siddiqui, J. Thomas, R. A. Norwood, M. Yamamoto & N. Peyghambarian) in der morgigen Ausgabe von Nature schreibt dazu:
This movie shows the concept of 3D telepresence. The 3D images of two of our researchers located in location A are sent via internet to another location B. Our 3D system at location B displays the two researchers. The movie is in real time and shows the speed of the entire process. Credit: Blanche et al. Nature
Der Artikel nimmt gleich zu Beginn Bezug auf diese Szene aus Star Wars:

Nasser Peyghambarian, einer der Autoren, meinte im Interview, dass es durchaus möglich sei, das System bis in 5 bis 10 Jahren auf HD-Video und 30 Bilder pro Sekunde zu pushen.