Freitag, 23. April 2010

Die "Germanophobie" der Deutschschweizer - auf den Spuren eines Begriffs / Teil 1

Marc Helbling ist ein junger Schweizer Politologe. Er arbeitet derzeit am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Sein, salopp ausgedrückt, "Steckenpferd": Die Germanophobie. Vor allem ihre Spielform in der Schweiz, genauer: in der Deutschschweiz. Angeblich hat er eine Studie darüber verfasst, wie die Deutschen in Zürich ankommen. "Angeblich", denn sie ist noch nirgends publiziert, ist ergo nicht nachprüfbar. Alles, was die weitere Oeffentlichkeit über ihren Inhalt weiss, stammt aus Communiqués, Essays von und Interviews mit dem Autor. Auf seiner Site steht:
Marc Helbling (2010): “Why Swiss-Germans dislike Germans. On negative attitudes towards a culturally and socially similar group” (Revise and resubmit, European Societies).
Einem kleinen Kreis ist sie, vermutlich in Auszügen, bekannt, denn Helblings Vortrag an der Jahresversammlung der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft am 8.1.2010 trug denselben Titel (pdf). Ausserhalb dieses Zirkels kennt niemand die Studie im Wortlaut, aber es reden schon alle darüber. Gepusht hat das diese Pressemitteilung des WZB vom 9. Februar (auch hier bei IDW). Zusätzlich ging die These gleichentags über den PR-Ticker pressetext. Und zwei Tage später publizierte Helbling selber in Printausgabe von Tages Anzeiger und Bund einen Aufsatz mit dem Titel:
Wieso auch Gebildete germanophob sind / Unbeliebte Deutsche; Gründe von Marc Helbling
Danach war die These von der wissenschaftlich untermauerten "Germanophobie" der Deutschschweizer schlechthin lanciert. Nur online, auf der Website des "Newsnetz" (Verbund von baz, tagi usw.), aber später nicht in Print, war schon am nächsten Tag ein Interview zu lesen mit Helbling, wo über die Grundlage seiner Aussagen stand:
Die Studie fusst auf der Befragung von 1300 Zürcherinnen und Zürchern zu ihrer Meinung über Einwanderer.
Nicht ganz irrelevant wäre die Information darüber, WANN denn die Umfrage durchgeführt wurde (und warum 1300 Zürcher alle Deutschschweizer repräsentieren können). Aber weil offenbar - bisher - niemand sich die Mühe gemacht hat, Helbling mal nach dem Text der Studie zu fragen und dort nachzusehen, vermittelt die Berichterstattung über ihren Inhalt den Eindruck, darin seien aktuelle Daten verwendet worden. Falsch! Marc Helbling hat mir freundlicherweise seine Arbeit gemailt in der Version vom 22.4.2010 (ev. differiert diese von der dann schliesslich publizierten!). Und dort steht auf Seite 9:
The only survey that included relevant questions and that will be used in the analyses below was conducted between October 1994 and March 1995 in the town of Zurich and included over 1’300 interviews with Swiss citizens that were between 18 and 65 years old. (Fussnote: The survey was organized by the Institute of Sociology of the University of Zurich.)
Helbling argumentiert also mit empirischen Daten, die 15 Jahre alt sind. Gewagt! to say the least. Warum das trotzdem ginge, dafür argumentiert er so:
Thus, I am not able to measure the impact of the growth of German immgration. It might, however, be assumed that German immigration does not so much have a direct impact on attitudes towards Germans, but increases the explanatory power of other factors. Thus, if we already find some explanations for the mid-1990s, it can be assumed that these effects have increased with the growing number of German migrants.
Zu Deutsch: Was vor 15 Jahren galt, gilt heute erst recht und sogar, angesichts der starken Zuwanderung, noch stärker. Oder nochmal anders: Wenn aus den 15 Jahre alten Daten sich eine antideutsche Haltung der Befragten herausdestillieren lässt, dann werden die Erklärungen dafür, wie es zu dieser Einstellung kommen konnte, umso valider, je mehr Deutsche in der Schweiz Leben. Das ist Helblings Kernthese, an der er alles aufhängt! Wie gut er die untermauert in seinem Paper, müssen die Fachleute beurteilen, wenn es denn mal tatsächlich publiziert ist. Meine unmassgebliche Meinung: Für den medialen Rummel, den das WZB um die Studie inszeniert hat, ist ihre empirische Grundlage etwas zweifelhaft (15 Jahre alte Umfrage + aktuelle Medienberichte aus Blick, Tagi, NZZ, TV) und sind die daraus abgeleiteten Erkenntnisse ziemlich einfach gestrickt (auch gut Ausgebildeten mit Schweizer Pass stinkt's, wenn's mehr Deutsche Konkurrenz um gute Jobs gibt). Damit er diese Haltung "Germanophobie" nennen kann, definiert Helbling sie so:
The term ‘germanophobia’ circumscribes here negative attitudes towards persons that can be distinguished on national or ethnic terms. Following Fishbein and Ajzen (1975) I distinguish attitudes from cognition and behaviour (see also Duckitt 2003). For Ajzen and Fishbein (1975: 54, 64) an attitude is “a person’s general feeling of favourableness and unfavourableness” and “an index of the degree to which a person likes or dislikes an object.” Thus, the term “germanophobia” is used here interchangeably with the expression “dislike of Germans”. This also makes clear that we do not investigate behavioural desire regarding Germans or real discriminate behaviour.
In meinen Ohren klingt "Germanophobie!" wie ein Kampfbegriff, nur weiss ich noch nicht recht von wem und zu welchem Zweck. Wer wird ihn wohl als erster in welchem Zusammenhang operationalisieren? Oder tat das Communiqué des WZB dies schon? Und was war dann der Zweck? On verra.

Ein kurzer Blick auf die Zahlen zeigt, wie bis 2007 die Bevölkerungsentwicklung im Kanton Zürich aussah:



Gegenüber dem Zeitraum, für den Helbling über Daten verfügt (94/95), hat sich die Zahl der Deutschen im Kanton Zürich also, auch gemäss jüngster Statistik, mindestens verdreifacht.
Eigentlich hätte man gerne eine etwas präzisere Referenz, woher genau Helbling seine Umfragedaten hat, wenn er daraus den immerhin recht pauschalen und harten Vorwurf ableitet, die Deutschschweizer seien germanophob. Mehr als 94/95 und "soziologisches Institut Zürich" ist in seinem Paper allerdings nicht zu finden. Erst eine Recherche im Medienarchiv smd führt schliesslich zur Quelle. Dort steht in einem Artikel aus der NZZ vom 17. April 2001, in einer Besprechung des Buches "Jörg Stolz: Soziologie der Fremdenfeindlichkeit. Theoretische und empirische Analysen";
Die empirischen Daten stammen aus einer repräsentativen Umfrage unter 1300 Schweizern und Schweizerinnen im Alter von 18 bis 65 Jahren in der Stadt Zürich im Winter 1994/95. Sie war Teil eines grösseren Projektes des Soziologischen Institutes Zürich mit dem Titel «Das Fremde in der Schweiz».
Das entspricht den Angaben Helblings, wird also wohl seine Quelle sein. Mit demselben Titel ist im Seismo Verlag eine Aufsatzsammlung erschienen 2001.
Sehr anders schätzt Jörn Lacour die Situation ein. Er ist Autor des "Schweizbuchs" und führte auf seiner Website im April 2010 eine Umfrage zum Verhältnis von Deutschen und Schweizern durch. Deren Ergebnisse sind natürlich nicht repräsentativ und unter anderem darum ebenfalls mit grösster Vorsicht zu geniessen.

Eine kurze Recherche bei der smd zeigt, wo "Germanophobie" in den letzten Jahren auftauchte, bevor Marc Helbling den Terminus in seinem (unveröffentlichten) Paper anfangs Februar in die Diskussion einführte. Es waren bis anhin nur wenige Stellen:

Heiner Geissler, NZZ am Sonntag, 18.11.2007: "Eine Germanophobie, eine Art Deutschenangst, ja sogar Deutschenfeindlichkeit soll sich in der Schweiz breitmachen, will man den Features und Artikeln der Schweizer Medien folgen, in denen von gechassten Moderatorinnen, demolierten Autos und isolierten Familien berichtet wird, die eines gemeinsam haben: Sie sind deutscher Herkunft. (...) Was der Pole für den Deutschen, wird der Deutsche für den Schweizer. (...)"

Roger de Weck, Sonntagszeitung, 3.1.2010: "(...) Seit je hat die NZZ enge Bande zur akademischen Welt und natürlich zur Universität Zürich. Deutsche Wissenschaftler mehren die Qualität dieser Uni und der ETH. Doch bislang fand das Blatt der Intellektuellen kein Wort des Sukkurses für ausländische Professoren, die von den Fremdenfeinden verunglimpft werden. In chauvinistischen Zeiten scheuen auch andere Redaktionen davor zurück, der Germanophobie frontal zu begegnen und nebenbei den kosmopolitischen Wissensplatz Schweiz vor Schaden zu schützen. "

Andreas Kilcher, Tages Anzeiger, 8.1.2010: "So jagt die Muslimophobie die Germanophobie etc. Das Angstobjekt ist austauschbar. Arme verängstigte schweizerische Schweizer: Sie sind umstellt von Phantasmen der Angst."

Und dann kam Helbling.

to be continued...

Nachtrag 28.4.: Im "Bild der Wissenschaft" 5/2010 auf Seite 7 wird Helblings Studie ebenfalls referiert. Die "-phobie" wird da bereits zum "-hass":
In der Schweiz lebende Deutsch werden bei den Eidgenossen immer unbeliebter. Die Gründe für diese "Germanophobie" hat Marc Helbling vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung jetzt erstmals in einer Studie untersucht. (...) Ein wichtiger Aspekt des Deutschenhasses ist laut Helbling der ökonomische Faktor (...) Die Studie widerlegt damit die bisherige Annahme der Migrationsforscher, wonach gebildete Menschen weniger fremdenfeindlich sind.

2 Kommentare:

Stefan hat gesagt…

Schön zusammengetragen.

Germane hat gesagt…

Dann will ich auch mal wissenschaftlich sein und die Grafik der Bevölkerungsentwicklung deuten:
Die zum Zeitpunkt der Studie vorherrschende Italophobie hatte einen massiven, etwa zwanzigprozentigen Rückgang des italienischsprachigen Bevölkerungsanteils in den deutschsprachigen Landesteilen zur Folge.
Wo kann ich mir jetzt meinen Doktortitel abholen?