Panikattacken und Angstzustände seien "verbreitete Störungen" schreibt er darin gleich zu Beginn. Dazu angeregt hat ihn wahrscheinlich der erste Satz des Papers in Science:
Anxiety disorders are highly prevalent disabling disordersDie Fussnote dazu referiert auf einen Artikel von anno 2005 über die Prävalenz verschiedener psychischer Krankheiten gemäss Umfrage in den USA. Tabelle 2 in jener Publikation ist zu entnehmen, dass "any anxiety disorder" in der US-Bevölkerung gemäss dieser halbwegs repräsentativen Umfrag eine von gut vier Personen irgendwann Mal in ihrem Leben durchmacht. Das klingt nach viel. JedeR vierte AmerikanerIn hat demgemäss irgendwann im Leben (aktuelle Lebenserwartung: über 82) während einer kurzen oder längeren Phase, ein Mal oder mehrere Male etwas aus diesem Katalog: Panic disorder, Agoraphobia without panic, Specific phobia, Social phobia, Generalized anxiety disorder, Posttraumatic stress disorder, Obsessive-compulsive disorder, Separation anxiety disorder.
Der World Mental Health Survey, WMHS, vergleicht die Situation in mehreren Ländern. Diese Präsentation des WMHS (weitere Infos hier) stellt auf Seite 23 die 12-Monats-Prävalenz von Angststörungen in 17 Ländern nebeneinander. Daraus ist abzulesen: Jede 5. Person in den USA erlitt in den vergangenen 12 Monaten eine Angststörung (19%). Das ist der höchste Wert im internationalen Vergleich. In Israel, wo ich als einfacher Laie tendenziell deutlich mehr Fälle als in den USA vermuten würde aufgrund der dortigen Lebensumstände, erlitt nur jede 33. Person eine Angststörung (3%). In den USA sind also Angststörungen sechs Mal häufiger als in Israel. Deutschland liegt mit 8% im Mittelfeld. Die Schweiz ist im WMHS nicht erfasst.
Breiter gefasst sind die Zahlen auf Seite 22 derselben Präsentation. Dort werden die aufsummierten 12-Monats-Prävalenzen von allen psychischen Kankheiten gemäss internationalen Definitionen (WMH-CIDI / DSM-IV) verglichen. Die USA führen mit 27% (= 27% der AmerikanerInnen erlitten in den vergangenen 12 Monaten eine psychische Krankheit gemäss WMH-CIDI oder DSM-IV). Deutschland: 11%, Israel 10%, Nigeria 7% (tiefster Wert). Das heisst: In den USA sind psychische Krankheiten vier Mal häufiger als in Nigeria. Und immer noch knapp drei Mal häufiger als in Israel. Deutliche regionale Unterschiede scheinen vorhanden zu sein.
Die Situation hierzulande beschreiben Dokumente des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums. Dem fact sheet zur stationären Psychiatrie 2000 - 2006 ist zu entnehmen, dass in diesem Zeitraum recht konstant 50'000 PatientInnen jährlich stationär psychiatrisch behandelt wurden. Der Bericht Gesundheit in der Schweiz 2008 (2,6 MB, 374 Seiten) schreibt auf Seite 213 unter "Jahrespravalenz psychischer Erkrankungen"
Jedes Jahr erkranken etwa 25 bis 30 % der Bevölkerung erstmals oder wiederholt an einer psychischen Störung.
Damit wären wir im Bereich der Amerikaner, die's gemäss WMHS auf 27% bringen. Und um einen Faktor 2,5 höher als Deutschland. Auf Seite 214 steht in "Gesundheit Schweiz":
Dieselbe Grössenordnung psychischer Erkrankungshäufigkeit wurde auch für die Schweiz gefunden, beispielsweise in der so genannten «Zürich-Studie», die vor rund 30 Jahren gestartet wurde, auch leichtere Störungen erfasste und eine Lebenszeitprävalenz von 48 % ergab. Dies bedeutet, dass nahezu alle Menschen tief greifendes psychisches Leiden an sich selbst oder in ihrer nächsten Umgebung schon erfahren haben.
Die Datenlage für diese Aussage ist allerdings eher unklar, um nicht zu sagen sehr dünn und fragwürdig. Teilweise berufen sich die Autoren dieses Kapitels von "Gesundheit in der Schweiz 2008" auf den obsan-Bericht "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie". Dort steht auf Seite 27 und folgende:
Die mit Abstand wichtigsten Studien in der Schweiz sind die sogenannte Zürich-Studie von Jules Angst und die 1988-91 in Basel durchgeführte Studie von Hans-Rudolf Wacker.Ueber Wackers Arbeit erfahren wir auf Seite 28 unter anderem:
Die Basler Studie wurde 1988-91 durchgeführt (Wacker, 1995). Die Stichprobe bildeten 470 Einwohner von Basel-Stadt, 261 Frauen und 209 Männer.Zur Zürich Studie steht in "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie"
Das Sample der Zürich-Studie (Binder et al., 1982; Angst et al., 1984) geht einerseits aus einer Befragung anlässlich der militärischen Eintrittsmusterung der im Kanton Zürich wohnhaften Männer des Jahrgangs 1959 hervor sowie aus zusätzlich erhobenen Samples (im Kanton Zürich wohnhafte Schweizer Frauen des Jahrgangs 1958).
Die Teilnehmenden wurden 1978 einer Screening-Befragung unterzogen, in welcher u.a. die Symptom Check List SCL-90-R nach Derogatis (1977) zum Einsatz kam. Das Panel wurde anschliessend aufgrund einer stratifizierten Stichprobe gebildet, wobei als Schichtungskriterien das Geschlecht und die SCL-Werte verwendet wurden. Dabei waren die Befragten nach dem Screening in sogenannte High- und Low-Scorer unterteilt worden in Abhängigkeit davon, ob sie SCL-Scores über dem 85% Perzentil aufwiesen oder nicht. Die Panelstichprobe umfasste schliesslich etwa zwei Drittel High-Scorer und einen Drittel Low-Scorer. Die Low-Scorer sind gegenüber der Ausgangspopulation etwa um den Faktor 11 untergewichtet. Als Motiv für die gewählte Stichprobenschichtung ist natürlich die erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von psychischen und somatischen Symptomen und Störungen im Segment der High-Scorer zu
nennen.
Von den 591 TeilnehmerInnen der ersten umfassenden Befragung 1979 sind über die Befragungen 1981, 1986, 1988, 1993 und 1999 hinweg jeweils durchschnittlich 10 % der Befragten als Drop-Outs ausgeschieden. An der letzten Befragung 1999 beteiligten sich etwas mehr als 60% des Ausgangssamples. 47% der Befragten haben an allen sechs Befragungen teilgenommen.
Macht also 591 * 0,47 = 277 Personen, die die "Zürich Studie" über den gesamten Zeitraum erfasst. Etwas mehr über die Zürich Studie steht hier:
Angst Jules; Gamma Alex; Neuenschwander Martin; Ajdacic-Gross Vladeta; Eich Dominique; Rössler Wulf; Merikangas Kathleen R
Prevalence of mental disorders in the Zurich Cohort Study: a twenty year prospective study.
Epidemiologia e psichiatria sociale 2005;14(2):68-76.
BACKGROUND: In order to minimise retrospective recall in developing estimates of the prevalence of mental disorders in the general population, we conducted a prospective study of a cohort of youth from Zurich, Switzerland.
METHOD: A 20 year prospective study of a community-based cohort aged 19-20 from Zurich Switzerland. The sample was enriched by subjects scoring high on the Symptom Checklist 90 R (Derogatis, 1977). A semi-structured diagnostic interview was administered by clinically experienced psychologists and psychiatrists. The six interviews from 1979 to 1999 assessed diagnoses and sub-threshold manifestations of major diagnostic categories (with the exception of schizophrenia) for the past twelve months, depending on the current DSM versions (DSM-III, DSM-III R, DSM-IV). Additional information on symptoms and treatment were collected for the years between the interviews. The reported prevalence rates are weighted for stratified sampling and cumulate the one-year rates of the six interviews.
RESULTS: The cumulative weighted prevalence rates for any psychiatric disorder were 48.6% excluding, and 57.7% including tobacco dependence. In addition 29.2% and 21.8%, respectively manifested sub-diagnostic syndromes. Overall there were no significant gender differences. The corresponding treatment prevalence rates were 22.4% and 31.1%, respectively for the diagnostic subjects and 6.9% and 6.1%, respectively for the sub-diagnostic groups. The total treatment prevalence rate was 37.2% of the population (males 30.0%, females 44.1%).
CONCLUSIONS: Our findings reveal that psychiatric disorders are quite common in the general population. When the spectra of mental disorders are considered, nearly three quarters of the general population will have manifested at least one of the mental disorders across their lifetime.
Und ganz am Schluss, nach den dramatischen "Conclusions" (Raucher inbegriffen, erwischt es dreiviertel aller SchweizerInnen mindestens ein Mal im Leben mit einer "mental disorder") lesen wir dort:
LIMITATIONS: The data are based on a relatively small sample; a single age cohort, and the study was conducted in Zurich, Switzerland. These study features may diminish the generalisability of the findings.
Die Referenzstudie, auf die sich unter anderem "Gesundheit in der Schweiz" beruft mit der Aussage, für die Schweiz als ganzes gelte eine Lebenszeitprävalenz von 48 % für psychische Störungen, umfasst also gerade mal 277 Männer des Jahrgangs 1958 und Frauen des Jahrgangs 1959 über gut 20 Jahre ('79 bis '99) und sagt von sich selber, ihre Anlage (nur eine Alterskohorte, nur Personen aus Zürich) reduziere die Verallgemeinerbarkeit ihrer Erkenntnisse. Und trotzdem ist sie die offenbar wichtigste Quelle für die genau genommen nicht haltbare Aussage in "Gesundheit in der Schweiz" auf S. 214, "dass nahezu alle Menschen tief greifendes psychisches Leiden an sich selbst oder in ihrer nächsten Umgebung schon erfahren haben". Diese Extrapolation von 277 50jährigen Zürcherinnen und 51jährigen Zürchern auf die ganze Schweiz scheint mir doch recht fragwürdig. Die 470 Baslerinnen und Basler, die Wacker befragt hat, machen die Sache nicht schlüssiger.
Die wissenschaftlich nur schwach untermauerte Aussage erscheint an vielen Orten, wenn's um die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen geht. Z.B. im BAG Bericht über die Europäische Ministerielle WHO-Konferenz zur Psychischen Gesundheit von 2005. Dort steht:
Nationale und internationale Studien zeigen, dass fast jede zweite Person im Verlauf ihres Lebens einmal – kürzer oder länger – an einer psychischen Krankheit leidet.
Sie taucht auf in "Psychische Gesundheit in der Schweiz" von 2007 unter "Fakten" auf Seite 10:
Ungefähr die Hälfte der Schweizer Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung (Ajdacic & Graf, 2003).
Sie kommt im Kapitel "Massnahmebereiche" in "Gesundheit im Kanton Zürich 2000 - 2006":
Jede zweite Person ist im Laufe ihres Lebens von psychischen Problemen betroffen, welche nach gegenwärtigen Diagnosekriterien das Ausmass einer psychischen Krankheit erreichen.
Sie ist 2007 auch Waffe im politischen Kampf, wenn NR Gutzwiller vom Bundesrat mehr Einsatz für die psychische Gsundheit der Bevölkerung verlangt:
Die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben an einem schweren psychischen Leiden zu erkranken, beträgt in der Schweiz nahe zu 50% und jedes Jahr erkranken 70'000 Menschen neu.
Und immer dient der obsan-Bericht "Bestandesaufnahme und Daten zur psychiatrischen Epidemiologie" als Referenz, der sich seinerseits in Sachen Prävalenz auf Angst und Wacker als Hauptzeugen beruft.
Kritik an den Prävalenz-Daten für die USA meldeten vor ein paar Jahren Horwitz und Wakefield an. Sie publizierten einen Artikel mit dem Titel
"the epidemic in mental illness: clinical fact or survey artifact?" Do half of all Americans suffer from mental disorders at some point in their lives? Or do surveys misdiagnose the distress that is a normal part of every life?und halten darin unmissverständlich fest
Despite their rhetorical value, the high rates are a fiction; the studies establish no such thing. In fact, the extraordinarily high rates of untreated mental disorder reported by community studies are largely a product of survey methodologies that inherently overstate the number of people with a mental disorder. The inflated rates stem from standard questions about symptoms with no context provided that might distinguish the normal distress experienced in life from genuinely pathological conditions that indicate an underlying mental illness. Both get classified as signs of disorders. Moreover, because people experiencing normal reactions to stressful events are less likely than the truly disordered to seek medical attention, such questions are bound to inflate estimates of the rate of untreated disorders.
Was bleibt? Ist es reine Propaganda, zu sagen, Panikattacken und Angstzustände seien "verbreitete Störungen"? Propaganda, weil die Aussage sich auf eine fragwürdige Datenbasis stützt und lediglich psychopathologisierenden Techniken zur Stabilisierung der unsäglichen Verhältnisse in die Hände spielt? Seit die extrovertierte Forderung "macht kaputt, was euch kaputt macht!" (garantiert leicht deutbar als pathologisch!) etwas aus der Mode gekommen ist, abgelöst vom introvertierten Pillenschlucken (was kann man denn sonst tun?), liefern angeblich hohe Prävalenzen Argumente für den Ausbau von psychologischen / psychiatrischen Angeboten (und Forschungstätigkeiten). Wer wollte bedürftigen Individuen da davor sein?
Unlängst berichtete eine Berufskollegin von einem Tischgespräch, an dem die Beteiligten zum Schluss kamen, dass extrem vielen Leuten Burn-Out, Depressionen, Bipolare Störungen, Panikattacken etc. diagnostiziert würden. Meine Gegenfrage war, wieviele an dem Tisch Direktbetroffene waren oder wirklich persönlich und aus erster Hand entsprechende Geschichten kannten. Ich vermutete "urban legends" am Werk: Es kennt jeder jemanden, der jemanden kennt, der schon mal in stationärer psychiatrischer Behandlung war oder kurz davor. Sie meinte, niemand in der Runde sei direkt betroffen, aber alle kennten eine handvoll Betroffene. Ich blieb skeptisch und schlug vor an einem Samstagnachmittag in der Fussgängerzone mitten in der Stadt eine anonyme ad hoc Strassenumfrage durchzuführen. Einzige Auskunft, die's vom Publikum braucht: "Hat Ihnen in Ihrem Leben je eine entsprechend geschulte medizinische oder eine psychologische Fachperson eine psychische Krankheit diagnostiziert oder waren Sie schon mal in einer psychischen Verfassung, von der Sie glauben, sie wäre Ihnen wohl als psychische Krankheit diagnostiziert worden?" (Zugegeben, das ist nicht ganz identisch mit Prävalenz!) Meine Vermutung, wir kämen nicht über 3%, worst case 5%. Hätten die offiziellen Dokumente mit ihrer dünnen Datenbasis recht, müsste jede zweite Person mit "Ja!" antworten.